"Auf Pizza" - Einleitung zu "Die Reise zu den Drachen"

CN: Abschied/Veränderungen, Essen in Foto und Text

 

 

Foto. Auf einem runden Holzbrett steht ein Teller mit einer Pizza. Vor und auf dem Brett liegen kleine Tomaten.
Freies Foto von Pixabay.

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

es gibt Phasen in dem Zusammenleben mit Anna & Co, da kann ich das Wort „Pizza“ wirklich nicht mehr hören. Und Anna noch viel weniger. Im letzten Herbst (2023) war es mal wieder so weit: Lia, Annas siebenjähriges Innenkind, war wochenlang „auf Pizza“ – und zwar heftig. „Auf Pizza“ meint, dass sie in der Tat dann nichts anderes essen will als Pizza. Das ist hier aber aus mehreren Gründen problematisch, abgesehen davon, dass täglich Pizza für keins gesund ist: Zum einen ist an einer Pizza nichts dran, was Anna & Co essen dürfen, aufgrund ihrer Zöliakie, einer Tomatenallergie und einer Milcheiweißunverträglichkeit. Ersetzt eins Weizen, Tomaten und Milcheiweiß, ist das, was da rauskommt, zwar ganz lecker, hat aber mit einer klassischen Pizza nichts mehr zu tun und war somit nicht das, was Lia wollte.

 

Zum anderen geht es in der Regel nicht um Pizza. Lias Wunsch danach ist immer ein Indikator dafür, dass sich entweder eine neue Erinnerung den Weg durch das System bahnt oder es eine mächtige Schräglage im System gibt, weil etwas alle zu sehr belastet. Damals war letzteres der Fall. Und so bettelte Lia täglich darum, dass es doch bitte, bitte Pizza zum Mittag geben möge. Einmal gab Anna nach, in der Hoffnung, dass sich Lia so weit beruhigte, dass sie anders mit ihr arbeiten konnte. Ohne Erfolg, aber mit einem viel zu hohen Preis in Form von Bauchschmerzen.

 

Als Lia eines Nachmittages wieder einmal tobend und weinend auf dem Bett lag, kam mir endlich, wie ich dachte, eine gute Idee, was sie vielleicht kurzfristig etwas trösten könnte:

„Und wenn ich dich mal wieder mit in den Zauberwald nehme?“ Ich stupste Lia bei der Frage behutsam mit dem Kopf an. Ich weiß, dass ihr jetzt verständnislos guckt. Natürlich kann ich weder einen Menschen noch einen inneren Anteil real mit in den Zauberwald nehmen. So weit reicht meine Erlaubnis, für Anna & Co alle Regeln ignorieren zu dürfen, dann doch nicht. Zumal es ja, wie ihr aus der Geschichte 5. Ein Elchabenteuer und seine Folgen wisst, nicht so ganz einfach ist, ohne die Fähigkeit des Dimensionenspringens dorthin zu gelangen. Irgendwann kurz nach meinem Einzug bei Anna & Co Ende der 1990er Jahre hatte ich Lia in Form einer magischen Fantasiereise den Zauberwald gezeigt. Damals hatte sie sich mit Begeisterung darauf eingelassen. Jetzt allerdings:

„Kenn ich doch schon. Ich will ne Pizza.“

„Und wenn wir im Zauberwald eine essen?“

„Sehr witzig. Ich will ne echte und keine vorgestellte.“ Mit diesen Worten drehte sie sich von mir weg und war nun offensichtlich nicht nur sauer auf die ganze Welt, sondern auch auf mich.

 

Lias Cleverness, die ihr ja aus vorangegangenen Geschichten, insbesondere 3. Rettender Cafébesuch, schon kennt, machte es mir in der Situation nicht gerade leichter. Janni (5-jähriges Innenkind) hätte mit Begeisterung eine imaginäre Pizza genommen. Mau. So ließ ich das Thema erst mal ruhen und versuchte es mit ein wenig beruhigender Magie, während ich mich schnurrend an Lia kuschelte.

 

 

Foto von einem Delfin in blauem Wasser, der freundlich in die Kamera guckt.
Freies Foto.

Am Abend jenes Tages blieb Anna beim Zappen an einer Doku über Delfine hängen, die innen Lias Aufmerksamkeit weckte. Plötzlich saß sie kerzengerade im Bett und sah mich an:

„Ich will die magischen Delfine sehen und mit ihnen zu einer der Drachen-Inseln reisen und Drachen sehen.“

Dreimal verflixter Feenstaub! Als ich letztes Jahr für den Text Wissenswertes recherchierte, hatte ich beim Frühstück mit allen nebenbei erwähnt, dass magische Delfine großartig anzusehen sein müssen – genauso wie Drachen. Und Lia hat einfach ein unfassbar gutes Gedächtnis. Mau.

Es gab nur ein Problem: Damit magische Fantasiereisen funktionieren, sollte der anleitende Kater wissen, wovon er spricht. Die Fernsehserie, an die ich damals die Fantasiereise für Lizzy angelehnt hatte, kannte ich genau wie sie in- und auswendig, hatten wir sie doch wochenlang gemeinsam angeschaut, insofern war es einfach gewesen, das sehr real zu gestalten.

 

(Wie ihr euch vielleicht erinnert, hatte sich Lizzy auf die Reise nicht gut einlassen können, stattdessen entstand daraus die gemeinsam geschriebene Geschichte Zuhause. An dieser Stelle sei daher meine Warnung zu Fantasiereisen mit komplex traumatisierten Menschen, vor allem mit DIS/pDIS, wiederholt: Passt da gut auf euch auf und brecht im Zweifel ab oder passt es an eure Bedürfnisse an – oder lasst es sein. Fantasiereisen können auch nach hinten losgehen.)

 

Doch zurück zu Lias Wunsch und dem damit verbundenen Problem: Auf den Drachen-Inseln war ich in meinem bisherigen Leben leider noch nie gewesen und auch die Delfine kannte ich nur aus Lehrbüchern. Natürlich hätte ich mir irgendwas ausdenken können, aber das hätte Lia gemerkt und es wäre nicht dasselbe gewesen. Sollte das ganze realistisch und eindrücklich – sozusagen mit Haut und Haaren fühlbar – sein, würde mir nichts anderes übrigbleiben, als vorher zum Magischen Türkisen Ozean zu reisen.

 

Um auf die Drachen-Inseln zu gelangen, damit kommen wir zu dem berühmten Haar in der Suppe, musste eins einen Delfin bitten, quasi als Wassertaxi zu fungieren. Dimensionenspringen zu den Inseln oder von ihnen weg ist leider nicht möglich. Das liegt an dem besonderen Gestein, das es auf all diesen Inseln gibt. Für die Drachen ist das kein Problem, die können fliegen und schwimmen, beides Fähigkeiten, die ich nicht wirklich gut beherrsche. Also fliegen gar nicht. Aber auch schwimmen ist nicht meine beste sportliche Disziplin, so als Katze. Und Sport überhaupt …

 

Okay, ich schweife ab. Kurz gesagt: Ich müsste auf einem Delfin zu den Inseln reiten. Auf einem Delfin. Durch den Ozean. Kein Boden unter den Pfoten und Wasser. Wasser, Leute.

 

Lia musste mir meine fehlende Begeisterung angesehen haben, denn sie warf sich erneut aufs Bett, vergrub das Gesicht in den Kissen, nicht ohne mir zuvor noch ein „Vergiss es!“ an den Kopf zu schleudern, und verzog sich nach innen. Es tat mir in der Seele weh, sie so zu erleben, genauso wie die Tatsache, dass sich an jenem Abend erneut alle in den Schlaf weinten, wie so oft in den vorangegangenen Wochen.

 

 

Foto eines Kopfes eines schwarzen Katers, der etwas bedröppelt ausschaut und den Kopf ganz leicht gesenkt hat.
Freies Foto von Pixabay.

Ich nehme an, dass ihr euch mittlerweile fragt, was genau diese Verzweiflung in Lia, aber auch allen anderen innen, ausgelöst hatte, oder?

 

Nun, es war das Thema Verlassenwerden, was sich, beginnend im März 2023, durch das gesamte Jahr zog und alle im System triggerte. Abschiede, Verluste, Veränderungen – Themen, mit denen Komplextraumatisierte besonders gut können. Nein, natürlich nicht. Das war Sarkasmus. Denn all das aktiviert die uralten Gefühle des Verlassen-worden-Seins.

 

Auslöser war in diesem Fall der Träger des ABW (ambulantes begleitetes Wohnen). Dort standen gravierende Veränderungen an, da die gesamte bisherige Leitungsebene gekündigt hatte oder aus Krankheitsgründen ausgeschieden war. Innerhalb von nur neun Monaten fielen auf professioneller Ebene so drei sehr wichtige und enge Bezugspersonen für Anna & Co weg. Ein doppelter Albtraum. Anna & Co stolperten von einem Schock in den nächsten. Doch damit nicht genug: Als Folge der ganzen Kündigungen würde es Ende des Jahres 2023 den Träger in seiner alten Form nicht mehr geben.

 

Das war auf vielen Ebenen bedauerlich, hatte es sich doch um einen Träger für Menschen mit sehr besonderen Bedürfnissen, mit dem Schwerpunkt auf Komplextraumatisierungen und DIS/pDIS gehandelt. Ein Träger, der Klient*innen tatsächlich annehmend, respektvoll und auf Augenhöhe begegnete und nicht nur auf dem Papier. Die ursprüngliche fachliche Leitung hatte mehr als einmal an Annas Seite oder für Anna bei Behördenangelegenheiten gekämpft wie eine (magische) Löwin und war all die Jahre menschlich und institutionell der Fels in der Brandung gewesen, den Anna & Co so dringend brauchten. Ein Verlust, der nicht auszugleichen sein würde.  

 

Die infolgedessen anstehenden grundlegenden, strukturellen Veränderungen würden, das war bereits im letzten Herbst abzusehen, ganz praktisch zu einer Verschlechterung der Begleitung für Anna & Co führen. Neben dem Verlust ihrer persönlichen Löwin würden Anna & Co nun mit einer ganzen Menge Dinge klarkommen müssen, die anders laufen würden als bisher. (Bitte habt Verständnis dafür, dass ich das nicht genauer ausführe, miau.) Für nicht komplex traumatisierte Menschen klingt das alles vielleicht nicht so schlimm, aber die Auswirkungen der starken Gefühle von Ausgeliefertsein und Ohnmacht durch die Abhängigkeit vom Hilfesystem sind nicht zu unterschätzen.

 

 

Foto eines schwarzen Katers mit gelben Augen, der direkt und streng in die Kamera schaut. Es ist nur sein Kopf und nur ganz wenig vom Körper zu sehen.
Freies Foto von mir, wenn ich mal wieder Dinge erkläre.

Natürlich löste das im gesamten System massive Ängste bis hin zu Todesangst aus: Abschiede. Verluste. Veränderungen. Wie bereits erwähnt, Ereignisse, die für traumatisierte Menschen mehr als schwierig sind. Dazu das Gefühl, dass es wieder keine Sicherheit, keine Beständigkeit gab und vor allem, dass niemensch wirklich da war. Was „nebenbei“ bemerkt, nicht nur ein Gefühl ist, sondern sowohl in der Vergangenheit als auch als zu oft in der Gegenwart bittere Realität.

 

Kinder, die massive Gewalt erleben, sind aus mehreren Gründen zwangsläufig sehr allein und verlassen:

So gibt es in den seltensten Fällen eine Person, der sie sich anvertrauen können. Zumeist bleiben sie mit ihrem furchtbaren Geheimnis sehr lange allein, was zu einem generellen Abgeschnittensein von anderen Menschen führt, auch und gerade außerhalb der Herkunftsfamilie.

Doch fast noch wichtiger als dieser Umstand, ist das Folgende, wenn eins verstehen will, warum Abschiede und Veränderungen für viele komplex traumatisierte Menschen (ob mit oder ohne DIS/pDIS) so heftige Themen sind: Sehr frühe Gewalt, dazu zählt für mich auch Vernachlässigung, geht immer mit einer Bindungstraumatisierung einher.

 

Selbstverständlich gibt es zu Bindungstraumatisierungen sehr viel mehr zu sagen, als ich es jetzt tun werde; nur ist es nicht mein Anliegen, den x-ten Fachartikel dazu zu schreiben. Das können andere besser. Wie immer geht es mir um einen kurzen Einblick in die Thematik.

Also, bindungstraumatisierte Menschen haben als Babys/sehr kleine Kinder nicht erfahren, dass eine Bezugsperson dauerhaft und verlässlich da ist, sich um ihre Bedürfnisse kümmert, auf ihr Schreien und Weinen reagiert und wiederkommt, wenn sie mal abwesend ist. Und das in einem Alter, in dem wir alle komplett abhängig sind, von einer Person, die uns gut versorgt. Natürlich löst das Todesangst aus und erstickt sogenanntes Urvertrauen im Keim. Von den lebenslangen physischen und psychischen Folgen, die es hat, wenn so kleine Wesen neben Vernachlässigung auch körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erleben, muss ich wohl nicht sprechen. Solche Erfahrungen können vielerlei Auswirkungen auf das Bindungsverhalten haben, wie Vermeidung von Bindung etc.

 

Bei Anna & Co sind es massive Verlustängste in allen nahen und wichtigen Beziehungen. Die Situation mit dem Ambulant Begleiteten Wohnen, Veränderung und Verlust – und alles, was Anna & Co sowieso schon tragen müssen - eigentlich mehr als ein doppelter Albtraum.  

Kurz gesagt: Bei Anna & Co wurden heftige Traumagefühle getriggert. Und es überstieg meine magischen Fähigkeiten, daran etwas zu ändern. Aber eine gemeinsame Reise auf die Drachen-Inseln würde ich doch hinbekommen können? Meine Ohren zuckten hoffnungsvoll. Vielleicht konnte ich Lia auf diese Weise, wenigstens für ein paar Stunden, etwas Freude bescheren, sodass sie ein bisschen Kraft tanken konnte, was sich hoffentlich auf die Anderen im System auswirken würde. Und so bat ich am nächsten Morgen Spring, ein bis zwei Tage auf Anna & Co aufzupassen – und katapultierte mich, sehr aufgeregt, wie ich gestehen muss, mit einem Sprung durch die Dimensionen an den Strand des Türkisen Magischen Ozeans.

 

Jetzt, ihr Zauberhaften, gibt es den von euch so geliebten berühmt-berüchtigten Cliffhanger, denn wie meine Reise verlief, werde ich euch erst in der nächsten Geschichte berichten. Gemein, ich weiß.

 

Wie immer dürft ihr mir gern einen Kommentar hier oder auf meinen Social Media Accounts zu der Geschichte hinterlassen.

Wir lesen uns.

 

Es grüßt euch herzlich euer magischer Kater Merlin.

 

 

Nachtrag: An dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön an dich, liebe Grellrosee. Deine Hilfe ist Gold wert, miau, generell, aber bei diesem Text ganz besonders.

 

 

Kommentare: 3
  • #3

    vonDeannabisData (Mittwoch, 03 April 2024 16:24)

    Super-informativ und gut verständlich gemacht. Bin auf die Fortsetzung gespannt

  • #2

    Erna (Dienstag, 02 April 2024 13:12)

    Uhh, was für eine informative Geschichte! Ganz viel Wissenswertes, was jeder lesen sollte.
    Ich bin aber schon ganz schön gespannt auf die Delfingeschichte: ich finde die nämlich auch richtig cool. Wenn ich könnte, würde ich für Dich auf einem Delfin reiten, lieber Merlin. Ich drück Dir für die Reise fest die Pfötchen und an Lia sende ich ein Köpfchenschmiegen als Geste des Mitgefühls.
    Ein liebstes Wau
    Eure Erna

  • #1

    @energiepirat (Sonntag, 31 März 2024 21:39)

    Lieber Merlin, zauberhafter,. Auch ich habe manchmal Heißhunger nach Pizza. Also nicht nach irgendeinem tiefgefrorenen Zeug von Dr. soundso oder einem anderen Industriepizzafabrikanten, Die schmecken mir ohnehin nicht wirklich. Diesen Heißhunger so geschickt in eine Beleuchtung von Zusammenhängen überzuleiten, die mir mehr vertraut sind, al sich das je brauchen konnte, ist eine Meisterleistung.

    Ich werde nicht viele Worte darüber verlieren. Immer wieder erklärst Du mir ein Stück meines Lebens.

    Danke dafür mein lieber Merlin. Ich verstehe ein Stück mehr.