Ein chaotischer Sommertag

Es ist ein riesiger, vermutlich alter Laubbaum zu sehen, der auf einer Wiese steht und Schatten spendet. Im Hintergrund weitere Bäume und Büsche, teils von der Sonne beschienen.
Freies Foto von Pixabay.

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

manchmal ist das, was ich erlebe, wie ihr wisst, ja nicht nur aufregend, sondern auch absurd-skurril-schräg.

Neulich war mal wieder so ein Tag. Es war brütend heiß, Anna hatte ausnahmsweise nachmittags Physio – und ich war mit Tasso (=> Geschichten 2 und 7) in einem kleinen Park zum Spazierengehen verabredet. Seit der Geschichte um Heinz/Rosalie (=> Geschichten 7, 8, 9) treffen wir uns regelmäßig, laufen gemeinsam durch die Stadt oder suchen uns ein nettes Plätzchen. Wir geben für Spaziergänger*innen immer ein lustiges Bild ab: ein riesiger Schäferhund und ein zierlicher schwarzer Kater, die ohne menschliche Begleitung durch die Gegend ziehen.

 

Nun, um groß herumzustreunern, war es an diesem Tag eindeutig zu heiß und so lagen wir einfach unter einem großen Baum und plauderten träge mit Jacky, meinem Lieblingsbaumgeist (=> Baumgeister, Frühling), der hier neuerdings seinen Hauptwohnsitz hat, als plötzlich mein magisches Funkgerät piepste. Die Dinger sind Segen und Fluch zugleich wie eure Smartphones, nur ohne den Komfort, den eure Geräte haben.

 

Die Stimme meiner Liebsten Spring (=> Geschichten 9, 10.1 & 10.2) schallte mir entgegen:

„Merlin, wir haben einen 3-11. Ich brauche deine Hilfe. Komm zum Bahnhof (*Name zensiert von Anna), Gleis 4. Spring kurz in den Zauberwald und dann dort hin. Geht schneller, ich brauche dich da sofort.“

 

Hoppala.

 

Diese Methode, aus der menschlichen Dimension von Ort A aus zuerst in die magische Welt zu hüpfen, um von da aus dann zu Ort B zu gelangen, statt sich die Pfoten wund zu laufen oder menschliche Fortbewegungsmittel zu benutzen, ist nicht so wirklich legal, auch wenn ich das (natürlich) schon öfter getan habe. Aber Spring sitzt im Vorstand des Rates der magischen Tiere, so war es dieses Mal wohl ok.

 

Nur: „Was zum verflixten Feenstaub ist ein 3-11?“

 

„Orr, Schatz, komm einfach. Keine Zeit für große Erklärungen. Over.“

 

„Spannend. Ich will mit. Das sind nur zehn Minuten von hier aus. Lass uns rennen“, Tasso wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und schien auf einmal gar nicht mehr unter der Hitze zu leiden.

 

„Das sind 9 Minuten und 58 Sekunden länger, als ich mit dem Dimensionenspringen brauche. Und Spring hat gesagt, sofort. Aber was zur Großen Katze ist ein 3-11?“ Ich sah meinen Freund hilfesuchend an. Tasso ist so belesen, der weiß einfach alles.

„Also, …“, setzte Tasso an.

 

Kurzfassung, bitte“, unterbrach ich ihn, für seine geliebten Ausschweifungen hatte ich nicht die Zeit.

 

„Magisches Tier in menschlicher Welt in Gefahr.“

 

Ach, du grüner Troll.

 

„Ok, du rennst, ich hüpfe durch Raum und Zeit. Wir treffen uns am Bahnhof.“

 

Jacky rief: „Und ich komme mit ein paar Baumgeistern mit. Wir sind am schnellsten da.“

 

Weg war er. Ich war mir nicht sicher, wie Spring das finden würde, hatte aber keine Zeit, mir weiter darüber Gedanken zu machen und sprang Richtung Zauberwald und dann Richtung Bahnhof.

 

Auf dem richtigen Gleis landend sah ich mich um: ein paar Reisende, Spring und herumwuselnde Baumgeister. Sonst nichts Ungewöhnliches.

 

„Was machen die hier?“, Spring war zu mir gesprintet und deutete auf die Baumgeister.

 

„War mit Jacky und Tasso im Park. Jacky war der Meinung, die Geister könnten vielleicht helfen. Ähm, und Tasso kommt auch noch. Aber was ist denn los?“

 

Spring rollte mit den Augen: „Eigentlich sollten wir eingreifen, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen. Aber da das Bahnpersonal schon die Polizei alarmiert hat, um Joy einzufangen, wenn der Zug hier ankommt, können wir vielleicht wirklich zusätzliche Hilfe gebrauchen.“

 

„Wer ist Joy?“ So langsam wollte ich mal ein paar Informationen.

 

 

Auf einer Wiese sitzt ein relativ großer mittelbraumer Hund. Schlappohren. Die Zunge hängt aus dem Maul. Kurzes braunes glattes Fell.
Privates Foto.

„Joy ist ein magischer Renn- und Spring-Labrador, noch sehr jung, nicht mal zwei Jahre alt, aber offenbar sehr begabt. Habe von dem Bruder, der auf sie aufpassen sollte, nur ein paar Infos bekommen. Die Eltern sind auf einer Mission in einer Dimension der Zukunft. Joy ist ziemlich wild, nur am Toben und Springen – und hat bei einem Sprung versehentlich die Dimension verlassen – und ist in einem Zug von der Ostsee hierher gelandet.“

„Bitte?“ Das war und ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise lernen junge magische Tiere das Dimensionenspringen erst in ihrer Ausbildung, erfordert es doch viel Konzentration und Sorgfalt. Dass eins so aus Versehen …

 

„Jaaa, krass, oder?“, fuhr Spring fort, „Den diversen Meldungen zufolge findet Joy das allerdings gar nicht so schlimm. Statt sich zu verstecken, tobt sie munter durch den Zug, springt freudig alle Menschen an – und das Zugpersonal hat ziemlich schnell gecheckt, dass sie ohne Begleitung reist und die Polizei alarmiert. Der Zug endet hier, sie soll hier eingefangen und ins Tierheim gebracht werden.“

 

„Woher weißt du das alles?“

 

„Gibt Fotos im menschlichen Internet. Und eine Menge Kommentare dazu, wie sie quasi aus dem Nichts in einem Abteil gelandet ist.“

Oh, verflixter Feenstaub.

 

In dem Moment traf Tasso ein, ziemlich außer Atem. „Das … war … Rekord!“, schnaufte er und Spring setzte, nach einem Blick auf die Anzeigetafel, auch Tasso rasch ins Bild. Der Zug hatte – Überraschung – ein paar Minuten Verspätung.

 

„Die Polizei ist auch noch nicht da, vielleicht haben wir Glück und können Joy vorher schnappen“, überlegte Spring und wandte sich an Jacky: „Falls nicht, lenkt ihr die Beamt*innen ab – und wir drei suchen diesen Hund. Und wenn was schief geht, Abflug in den Zauberwald“, ihr Blick fiel auf Tasso, „ähm …“

 

„Ich komme schon klar. Hundemarke, Halsband mit Hannes (sein Mensch) Telefonnummer. Mir passiert nix.“ (Wie ihr wisst, hat Tasso seine magischen Fähigkeiten ja größtenteils verloren.)

 

„Ok, dann Achtung, der Zug fährt gleich ein“, Spring deutete in die entsprechende Richtung. Und im selben Moment tauchten natürlich vier Polizist*innen oben an der Treppe zum Bahnsteig auf. Jacky und seine Baumgeister wollten schon losstürmen, doch Spring hielt sie zurück.

„Wartet, bis die Türen geöffnet sind. Und agiert so unauffällig wie möglich.“

 

Ich fand es ja schon cool, wie gelassen und souverän Spring in dieser Situation auftrat, war ich dagegen doch ganz schön aufgeregt.

 

Der Zug hielt, Jacky brüllte „Attacke“ und seine Geister stürmten den Polizist*innen entgegen durch die Menge der aus dem Zug quellenden Reisenden. Sie erreichten die Beamt*innen in Sekundenschnelle, wuselten um sie herum, kletterten an ihnen herauf und hinderten sie so daran, auch nur einen Millimeter vorwärts zu kommen.

 

Das sah ich noch aus dem Augenwinkel, während ich Spring zu einer der Zugtüren folgte. Wir quetschten uns eilig durch die Leute, während Tasso den Bahnsteig im Auge behielt, falls Joy woanders aussteigen sollte. Doch wir hatten Glück, aus einem der Abteile ertönte ein fürchterliches Gejaule, offenbar war es dem Bahnpersonal doch noch gelungen, Joy einzusperren. Spring sprintete voran und öffnete die Abteiltür flugs mit etwas Magie – und wurde mal eben von einem Renn- und Spring-Labbi überrannt.

 

Ok, für ein Hundebaby war Joy ziemlich groß. Anna würde sie jetzt schon bis zu den Knien gehen. Ich schickte einen magischen Rettungsstrahl los, der Joy umfing und sanft stoppte. Geschafft, ich hatte sie quasi an der Leine. Die Kleine heulte sofort wieder los.

 

Draußen hatten die Baumgeister, wie mir ein Blick aus dem Fenster zeigte, das totale Chaos angerichtet; Polizist*innen und Reisende purzelten lustig durcheinander. Gut, das gab uns Zeit. Spring hockte derweil neben der jaulenden Joy und versuchte, sie zu beruhigen und ihr die Lage zu erklären. Doch die zappelte an der magischen Leine, winselte, bellte und war nicht zu bewegen zuzuhören. Einer Eingebung folgend rief ich Tasso.

 

„Was?“, er steckte seinen Kopf durch die Zugtür.

 

„Versuch du mal, mit ihr zu reden!“ Vielleicht half ja ein Artgenosse. Und siehe da, kaum sah Joy den alten Schäferhund, beruhigte sie sich zumindest ein wenig.

 

„Wir müssen hier weg, verstehst du? Ganz schnell. Dich erst mal in Sicherheit bringen. Und dann sehen, dass du nach Hause kommst.“

 

„Aber das hier ist lustig“, heulte Joy. „Menschen sind toll. Zuhause ist langweilig.“ Tasso fing wieder an zu reden – und ich weiß nicht, ob es wirklich seine Worte waren oder doch seine Art zu sprechen, die quasi jede*n sehr schnell sehr müde macht – jedenfalls hörte Joy auf, herumzuzappeln, und sah Spring zum ersten Mal richtig an:

 

„Hallo, graue Katze.“

 

„Pass auf“, nutzte diese ihre Chance, „wir müssen jetzt alle zusammen ganz schnell aus dem Zug springen und dann den Bahnsteig entlang rennen, bis wir draußen sind. Ok? Springen und rennen kannst du doch super!“

Joy nickte und ich drückte Spring die magische Leine in die Pfoten. Ich kann nicht super springen. Da war es sicherer, wenn meine Liebste die Leine hielt.

„Tasso bleibt dicht an deiner Seite. Wenn ich ‚los‘ sage, rennen wir – und du bleibst dich hinter mir, als würden wir Fangen spielen oder so!“

Joy wedelte begeistert mit dem Schwanz und begab sich in Startposition.

„Du bleibst hinten und sicherst ab“, wandte sich Spring an mich.

Ach, was.

„Los!“

Spring rannte los, Joy eher neben als hinter sich, die Kleine war extrem schnell, Tasso klebte an Joys Seite (Warum ist der so gut in Form?) und ich – nun, ich hatte doch diverse Schwierigkeiten durch das Chaos zu kommen, das die Baumgeister angerichtet hatten. Gepäckstücke lagen wild auf dem Bahnsteig verstreut, Reisende rannten umher und versuchten, die Baumgeister abzuschütteln. Zwei der Polizist*innen hatten sich auf einer Bank stehend in Sicherheit gebracht und forderten offenbar Verstärkung durch ihre Funkgeräte an. Soviel zu ‚unauffällig agieren‘.

 

„Sobald wir vom Bahnsteig runter sind, hört ihr auf und bringt das Chaos bitte wieder in Ordnung“, brüllte ich Jacky zu, der noch immer auf dem Kopf einer Beamtin thronte. Himmel, das würde Schlagzeilen geben. Jacky streckte zustimmend einen Daumen in die Luft – und ich sah zu, dass ich Land gewann. Spring, Tasso und Joy waren mittlerweile nicht mehr zu sehen.

 

Ich fand die drei in einer Seitenstraße neben dem Bahnhof, Spring und Tasso völlig außer Atem, Joy an der Leine hopsend und aufgeregt in alle Richtungen schnuppernd.

„So, jetzt brauchen wir einen Plan, wie wir Joy zurückbringen“, seufzte Spring.

„3-11 sieht da nichts vor?“

„Doch, aber nur für magische Tiere, die das Dimensionenspringen beherrschen. Den Fall, dass ein magisches Jungtier versehentlich in einer anderen Dimension landet, hatten wir noch nie.“

Großartig, ein Regelwerk, das Tausende von Seiten umfasst – und doch wie so oft völlig nutzlos war.

Hm.

„Ich habe ne Idee. Aber dazu muss ich an Annas Handy.“

 

Tasso und Spring sahen mich gespannt an, während Joy neugierig fragte: „Was ist ein Handy?“ Tasso setzte zu einer Erklärung an, doch ich unterbrach ihn:

„Und wir sollten uns sputen!“ Ich deutete gen Himmel, der inzwischen schwarz war. „Da bahnt sich ein Unwetter an. Ich erzähl’s euch später. Wir müssen erst mal los.“

 

Wenn wir uns beeilten, überlegte ich, wären wir in einer halben Stunde bei Anna, hoffentlich noch vor dem Unwetter. Den Kleinen machen Starkregen, Donner und Blitz und Sturm immer so eine fürchterliche Angst; da wäre ich gern bei ihnen.

 

Doch ich hatte die Rechnung ohne unser magisches Renn- und Spring-Labbi-Baby gemacht. Wir kamen kaum vorwärts, weil sie versuchte, jeden Menschen, den wir trafen, freudig zu begrüßen, und alles, wirklich alles, beschnuppern musste. Dann fiel schon der erste Regentropfen – und wir hatten gerade mal dreiviertel der Strecke geschafft. Joy heulte auf, blieb stehen und hob verzweifelt dreinblickend abwechselnd die Pfoten in die Luft.

„Uff, was ist los? Hat sie sich verletzt?“

Das hätte mir jetzt noch gefehlt. Spring schüttelte den Kopf. „Glaub nicht. Warte mal.“ Sie zog Joy rasch in eine Toreinfahrt und kaum im Trocknen begann diese erneut, freudig rumzuhüpfen. Ah, ja, unser Hundebaby war wasserscheuer als alle Katzen zusammen. Na, großartig.

„Hier könnt ihr nicht bleiben. Hier ist zu viel los“, ich hatte kurz überlegt, allein zu Anna zu flitzen, aber da Joy durch das Internet mittlerweile vermutlich zu einer Berühmtheit geworden war, war mir das zu riskant. „Sucht euch lieber ein trockenes Plätzchen in Annas Straße. Da ist es viel ruhiger.“ Spring stimmte zu und schlug der Kleinen erneut ein Wettrennen vor.

„Aber das ist nass. Mag ich nicht“, jaulte Joy.

„Je schneller du rennst, desto weniger merkst du davon“, versuchte Tasso es.

„Ok“, Joy wirkte noch skeptisch. „Dann aber ganzganzdolle schnell.“

Und so sprinteten wir los. Joy und Spring vorne weg – und ich wieder mal hintendran. Ich muss dringend etwas für meine Kondition tun.

 

Wir bogen, inzwischen triefnass, gerade in Annas Straße ein, als der erste Blitz über den Himmel zuckte, direkt gefolgt von einem Donnerschlag. Joy machte eine Vollbremsung, jaulte und begann zu zittern und drehte sich im Kreis. Ach du je, sie war total in Panik. Spring nahm die Leine kurz, drückte sich dicht an den Körper der Kleinen und gab Tasso ein Zeichen, sich an die andere Seite von Joy zu schmiegen.

„Ruhig. Wir haben dich in der Mitte. Es sind nur noch 50 Meter, dann bist du in Sicherheit. Ok?“

Joy hechelte hektisch, hörte aber auf zu jaulen und zappeln. Und so flitzten wir ein weiteres Mal los, während aus dem Regen Hagel wurde und es blitzte und donnerte wie wild.

Ich öffnete flugs die Haustür – und wir waren im Trockenen. Puh, ich schnaufte kurz durch und wandte mich dann an meine Begleiter*innen.

„Hier könnt ihr aber nicht bleiben.“ Zwei große Hunde und eine Katze im Hausflur – das würde schnell die Nachbar*innen auf den Plan rufen.

„Keller?“, fragte Spring.

„Zu gefährlich mit Joy. Da finden gerade Bauarbeiten statt. Ein einziges Schlachtfeld mit runterhängenden Kabeln, Schuttbergen und herumliegenden alten, zersplitterten Holzbohlen.“ Ich zögerte einen Moment. „Ich nehme euch mit hoch.“ Anna würde begeistert sein. Nicht.

„Ich gehe vor“, sprach es aus und kletterte die Stufen empor. Oben angekommen, klingelte ich.

„Wer ist da?“, Annas Stimme klang durch die Tür.

„Mach auf, bitte, ich bin‘s.“

„Merlin?“, Anna riss erschrocken die Tür auf und hockte sich vor mich. „Seit wann klingelst du? Was ist passiert?“ Besorgt hob sie mich hoch, wie sie es immer zur Begrüßung tat. Doch im selben Moment fiel ihr Blick auf meine tropfnassen Begleiter*innen – und sie erstarrte. Ich hing wie der sprichwörtliche nasse Sack in der Luft und hoffte, sie würde mich nicht fallen. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Ihren Gesichtsausdruck mit „entgeistert“ zu beschreiben, wäre noch untertrieben.

 

 

Foto von einem schwarzen Kater mit gelben Augen. Es ist nur der Kopf zu sehen, soz. eine Portraitaufnahmen. Er guckt ein bisschen streng in die Kamera.
Freies Foto von Pixabay.

Ok, kurzer Break für eine Runde Erklärkater: Zugegeben, in dieser Situation wären wohl die meisten nicht nur sehr überrascht, sondern auch sehr überfordert gewesen. Ich meine, vier Tiere, davon drei magisch, unangekündigt mitten in einem Unwetter vor der Tür … ?

 

Doch für Anna & Co (wie für die meisten traumatisierten Menschen) sind schon etwas ungewöhnlichere Überraschungen schwierig, um nicht zu sagen: häufig ein Albtraum. Und zwar Überraschungen jeglicher Art. Sei es eine Geburtstagsüberraschung, ein unangekündigter Besuch, ein Brief, eine Mail oder ein Anruf von jemensch, von dem eins lange nichts gehört hat, ein Überraschungspäckchen, Ankündigungen – alles. Völlig egal, ob es sich eigentlich um eine gute Überraschung oder eine schlimme handelt (wie unangenehme Briefe von Ämtern etc. – ihr erinnert euch, denke ich). Bei Anna und den anderen geraten in einer solchen Situation innen alle sofort in Panik und Alarmbereitschaft, während die Stresshormone durch den Körper toben.

Ja, bei Neugier (z.B. bei einem Überraschungspäckchen oder gar der Ankündigung einer Überraschung) wird dasselbe Stresssystem angesprochen wie bei Angst. Der Grund dafür? Ganz einfach: Es gibt keine Kontrolle über die Situation. Überraschungen sind nicht planbar. Logischerweise, wären ja sonst keine.

 

Planung bzw. Planbarkeit ist aber für viele komplex traumatisierte Menschen mit oder ohne DIS/pDIS noch immer überlebenswichtig, um die Gefahr von Ohnmachtsgefühlen, Überforderung und Kontrollverlust zu bannen. Im Umkehrschluss heißt das somit, dass Überraschungen genau diese Gefühle auslösen: Ohnmacht, Überforderung, Ausgeliefertsein und letztendlich auch Angst. Das ist Stress pur und triggert altes an, und den allermeisten Überlebenden von Gewalt welcher Art auch immer fehlt nachvollziehbarerweise das Vertrauen, dass sich eine Situation positiv auflöst, dass nichts Schlimmes passiert. Soweit verständlich, oder?

 

Unangekündigter Besuch hat sogar noch eine weitere unangenehme Komponente: das unerwartete, plötzliche Eindringen einer anderen Person in den persönlichen Schutzraum, die Wohnung, ohne ausreichend Zeit, sich darauf einzustellen – und dabei ist es häufig egal, wie vertraut die:der Besucher*in ist.

 

Insofern war meine Aktion, Anna und die anderen so zu überfallen, mehr als grenzwertig, um nicht zu sagen, komplett daneben. Mau. Asche auf mein Haupt. Aber mir war einfach nichts anderes eingefallen. Draußen tobte das Unwetter mit Macht und ich trug die Verantwortung für ein magisches Hundebaby.

 

Also, Ende der Erklärkatereinheit und zurück zu der absurden Situation an Annas Wohnungstür.

 

 

„Bitte, Anna, es tut mir so leid. Ich erkläre es dir gleich. Aber können die drei in die Küche? Bitte? Ist wirklich ein Notfall.“

 

Ich sah Anna fast flehend an, während Spring, Joy ganz kurz an der magischen Leine haltend, uns alle vier rasch magisch trockenföhnte. Anna nickte stumm. Sie war völlig überrumpelt. Mich noch immer mit ausgestreckten Armen vor sich haltend, machte sie die Tür frei und sah zu, wie Spring die beiden Hunde in die Küche führte. (Normalerweise nimmt sie mich richtig auf den Arm, sodass meine Vorderpfoten auf ihrer Schulter liegen; so war das ziemlich ungemütlich.)

 

„Lass uns ins Zimmer gehen. Dann erkläre ich dir alles.“ Wieder nickte Anna stumm, schloss die Wohnungstür, trug mich ins Zimmer und setzte mich auf’s Bett. In der Küche heulte Joy bei jedem Donner panisch auf.

 

„Und was ist jetzt dein Plan?“, fragte Anna, nachdem sie völlig fassungslos meiner Zusammenfassung der Ereignisse gelauscht und ich ausführlich um Entschuldigung gebeten hatte.

„Elchi anrufen. Ihn bitten, mit dem Hubschrauber Joy und mich abzuholen, nach London zu fliegen und dann mit ihr in die verzauberte Eiche zu klettern, um sie über das magische Trampolin in den Zauberwald zurückzubringen.“

Anna kennt das Elchabenteuer und seine Folgen (Geschichte 5) und wusste daher, was ich meinte. Sie schlug die Hände vor’s Gesicht und für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob sie lachte oder weinte. Es war ersteres.

„Meine Güte, das ist …“, sie konnte nicht aufhören zu kichern. Oha, da lauerte wohl eine der Kleinen unter der Oberfläche, kurz davor die Nerven zu verlieren. Hin und wieder geht so ein Lachflash einer Panikattacke oder ähnlichem voraus. Anna schüttelte sich kurz, bekam den Kicheranfall unter Kontrolle und nickte: „Sieh zu, dass sie schnell abgeholt wird.“

„Sobald das Unwetter vorbei ist und Elchi fliegen und landen kann“, versprach ich, schnappte mir das Handy und rief auf dem Weg in die Küche Alex in Hamburg an, wo Elchi lebt.

 

„Hi, Anna“, ertönte Alex‘ Stimme aus dem Handy, doch ich unterbrach sie sofort.

„Ich bin’s, Merlin. Gib mir bitte schnell Elchi.“

„Moment, der hängt mit Elchili vor der Glotze; der Kleine ist doch gerade hier zu Besuch“, Alex klang zwar leicht verwundert, stellte aber zum Glück keine weiteren Fragen.

Erneut erklärte ich, was los war, und Elchi war erwartungsgemäß begeistert von seinem Auftrag. Er liebt Abenteuer.

„Ich fliege sofort los, sobald sich das Unwetter beruhigt hat.“

„Aber bitte lass Elchili bei Alex!“

„Geht klar. Der wird allerdings sauer sein.“

„Ich weiß“, seufzte ich und wir legten auf. Den beleidigten kleinen Plüschelch würde ich trösten, wenn das ganze hier vorbei war.

 

In der Küche kauerte Joy zusammen mit Tasso unter dem Küchentisch. Das Gewitter machte sie völlig fertig. Die beiden hatten sich dicht aneinander gekuschelt und Tasso erzählte ihr Geschichten aus dem Zauberwald, um sie abzulenken. Trotzdem zuckte sie bei jedem Donner panisch zusammen.

Rasch erklärte ich nun auch den dreien meinen Plan und schaffte es so, Joy das Gewitter zumindest kurz vergessen zu lassen.

 

„Was ist ein Hubschrauber? Ich werde fliegen wie ein Vogel? Und dann aus einem Baum springen?“ Fragen über Fragen purzelten aus ihr heraus, die Tasso und Spring geduldig beantworteten, während ich auf Annas Handy checkte, wie lange das Unwetter noch dauern würde. Laut der Wetter-App nicht mehr allzu lange. Große Katze im Himmel sei Dank.

 

Als die Häufigkeit der Donnerschläge langsam abnahm, wurde Joy zunehmend munterer und begann, die Küche zu erkunden. Spring und Tasso waren die nächste Stunde damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass unser Hundebaby die Küche nicht versehentlich auseinandernahm.

 

Schließlich ließ das Unwetter nach und ich erhielt eine Nachricht von Elchi, dass er jetzt losfliegen würde. Tasso und Spring beschäftigten weiterhin Joy und ich sah immer mal wieder nach Anna und den anderen. Die Stimmung war … nun, ja … ich würde mir wohl mächtig was einfallen lassen müssen, um das wieder gut zu machen, wie ihr euch vorstellen könnt. Endlich hörte ich das vertraute ratternde Geräusch von Elchis Hubschrauber. Der fliegt nur mit Ahornsirup, wusstet ihr das schon?

Schnell erklärte ich Joy noch mal den Plan.

„Nein“, heulte sie auf, „Tasso soll mitkommen, nicht du!“ Na, danke. Ich stand wohl nicht so hoch im Kurs bei ihr.

„Das geht in Ordnung. Ich mach das“, beruhigte Tasso unser Hundebaby.

„Sicher?“, ich sah ihn zweifelnd an. „Du magst keine magischen Trampoline und hast keine …“

„… magischen Kräfte. Ich weiß“, vollendete Tasso frustriert den Satz. „Aber den besten Draht zu Joy.“ Er warf einen Blick auf die kleine Hündin, die sich dicht an ihn gekuschelt hatte und offenbar ein genauso großer Fan von ihm war wie er von ihr. „Außerdem ist es an der Zeit meiner alten Heimat endlich mal wieder einen Besuch abzustatten.“ Spring und ich sahen uns kurz an und dann stimmte Spring zu:

„Ich sag Maxi (Vorsitzende des Rates der Magischen Tiere) Bescheid. Geht schon mal runter.“ Elchi war mittlerweile gelandet.

 

Wie zu erwarten war, fand Joy auch den großen Plüschelch toll, sprang ihn an und schlabberte ihm erst mal das Gesicht ab. Zum Glück ist Elchi da nicht so empfindlich. Dann instruierte ich ihn rasch:

 

„Du bringst die beiden nur zur Magischen Eiche und springst nicht mit in den Zauberwald. Du …“

 

„Jaja, gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine 4000 Euro ein und fliegen Sie direkt nach Hamburg zurück. Schon klar. Mache ich.“

Spring und ich verabschiedeten uns von Joy und sahen zu, wie sie und Tasso in den Hubschrauber kletterten. Hoffentlich ging das gut.

 

Als der Hubschrauber außer Sichtweite war, lehnte sich Spring müde an mich: „Das war ganz schön anstrengend. Danke für deine Hilfe.“ Dann sah sie mir in die Augen und sagte: „Schatz, das mit den eigenen Kindern lassen wir aber erst mal, oder?!“

 

„Definitiv“, stimmte ich zu und betonte dabei jede einzelne Silbe.

 

Wir kehrten in die Wohnung zurück, brachten die Küche in Ordnung und kuschelten uns dann zu Anna und den anderen. Die Kleinen wollten natürlich jedes Detail der Geschichte wissen, wie ihr euch denken könnt – und Anna musste ich schwören, sie niemals wieder so zu überfallen.

 

Sowohl Elchi als auch Maxi meldeten, dass alles gut gegangen sei. Tasso würde sich um Joy kümmern, bis ihre Eltern zurück waren. Der Bruder war mit dem kleinen Wildfang eindeutig überfordert. Zwei Tage später überreichte mir Anna ein gebrauchtes altes Handy, zusätzlich zu meinem magischen Funkgerät. Das Ding kann nix außer telefonieren und SMS schreiben, aber um Anna im Notfall zu erreichen oder über irgendwas zu informieren reicht es wohl. So werden wir hoffentlich nie wieder in eine solche Situation geraten.

 

Tja, das war es für heute, ihr Zauberhaften. Wie immer könnt ihr mir gern einen Kommentar hier oder auf meinen Social Media Accounts hinterlassen. Wir lesen uns.

 

Es grüßt euch herzlich euer Merlin.

 

Nachtrag: Ihr wundert euch, warum ihr von dem Vorfall nichts in den Medien oder im Internet gehört habt und die ersten Meldungen und Videos von Joy nicht mehr auffindbar sind? Und dass sich offenbar niemensch erinnert? Nun, geht mir ähnlich, erwartete ich doch etliche Schlagzeilen. Fakt ist, ich kann es nicht erklären, warum darüber nicht weiter berichtet wurde. Ich vermute, dass die Baumgeister ihre Finger im Spiel hatten, aber aus Jacky ist dazu kein Wort rauszubekommen. Die Magie der Baumgeister ist noch recht unerforscht und sie selbst verraten nichts darüber, was sie eigentlich so alles können. 

Kommentare: 2
  • #2

    firefly (Sonntag, 20 August 2023 17:06)

    Eine super Geschichte, hatte viel Spaß. Und es würde mich nicht wundern, wenn die Baumgeister öfter mal irgendwo mitmischen - BER?

  • #1

    @energiepirat (Dienstag, 15 August 2023 22:16)

    Wow, was für eine turbulente Geschichte. Das hat Screwball Charakter. Lustig, witzig, unterhaltsam, spannend und berührend, Der strenge Gesichtsausdruck des Erklärkaters im Photo passst genau. Ich bin begeistert. Danke sehr Merlin