10.2 Familiengeheimnisse

CN Familie

CN Tod

 

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

so, nun bin ich endlich soweit, euch zu berichten, was so alles in der magischen Welt passiert ist, seit Minna und ihre Unheilvollen geflohen sind (=> Die Geschichten 7, 8, 9 und den Text zu den Feen solltet ihr kennen 😉, bevor ihr diese hier lest). Ich denke, ihr werdet während des Lesens verstehen, warum ich doch einige Zeit brauchte, um das für euch aufzuschreiben. Ich hatte wirklich viel zu verarbeiten.

 

Also, es war ein gemütlicher Sonntagmorgen, Anna und die anderen und ich kuschelten noch ein wenig im Bett, als mein magisches Funkgerät piepste.

„Bestimmt wieder deine Liebste“, kicherte Ricky, Annas etwa 12-jähriges Innenkind. Ich angelte nach dem Gerät, eilig, weil auch ich mit einer Nachricht von Spring rechnete. Nun, ich lag genauso falsch wie Ricky.

 

„Hey, Kumpel, komm bitte so schnell wie möglich in den Zauberwald. Es gibt Neuigkeiten“, ertönte Snowflakes Stimme aus dem Gerät.

„Oh, was ist passiert?“, fragte ich neugierig. Kurzes Schweigen.

„Bitte mach dich einfach auf den Weg, ja? Wir bereden das lieber persönlich.“ Ok, schade um den Faulenzsonntag, aber es schien wirklich dringend zu sein, Snowflakes Stimme klang sehr ernst. Ich erklärte Anna, dass ich wegmusste, und ging noch kurz mit ihr den Tag durch, dann sprang ich in die magische Dimension.

 

Ich hatte die Unterkunft von Snowflake angepeilt, doch da war niemand. Hmm. Die Info über einen Treffpunkt wäre schon nützlich gewesen, wenn es denn sooo dringend ist, dachte ich noch, dann sah ich Spring auf mich zulaufen. Wir begrüßten uns mit einem liebevollen Nasenstupser und schnurrend, dann sagte sie:

„Komm mit, Mascha und Snowflake (meine besten Freund*innen seit 6. Die Bewährungsprobe) warten auf der kleinen Lichtung im Wald auf uns, wo du dich immer dann mit Snowflake triffst, wenn ihr Wichtiges zu besprechen habt, was keine:r hören soll.“

Ok, klar, da hätte ich auch gleich draufkommen können. Spring schlug ein schnelles Tempo an und so waren wir nach kurzer Zeit an dem offensichtlich nicht mehr ganz so geheimen Lieblingsplatz von mir und Snowflake.

 

Er und Mascha begrüßten mich beide ausgesprochen herzlich, dann begann Snowflake zu sprechen:

 

„Also, ja, es gibt Neuigkeiten. Maxis Brüder und ihre Wiesel (=> Geschichte 9; Maxi ist unsere Vorstandsvorsitzende, wie ihr wisst) waren vor ein paar Tagen auf dem Rückweg zum Zauberwald, weil es ihnen immer noch nicht gelungen war, eine Spur zu Minna (der neuen Anführerin der Unheilvollen, eine Meersau) oder den anderen Unheilvollen auszumachen. Sie wollten mit Maxi eine neue Strategie besprechen. In einer Pause entdeckten sie Wilma, die Wühlmaus, in einem Gebüsch. Reiner Zufall. Sie war leicht verletzt und deswegen einfach einzufangen.“ (Wilma hatte auch auf der Namensliste gestanden, die uns Konrad, unser Superspion, im Feenwald übergeben hatte.)

 

„Das ist doch super“, rief ich aus, ich verstand die ganze Anspannung, die in die Gesichter der drei geschrieben war, noch nicht. 

„Hmm“, brummte Snowflake und fuhr mit seinem Bericht fort: „Maxi und ich haben uns Wilma dann zusammen vorgeknöpft. Sie packte relativ schnell aus.“ Snowflake machte eine kleine Pause und atmete tief durch. „Die tatsächlich relativ gute Nachricht ist, dass sich die Unheilvollen, hm, … mehr oder weniger selbst zerlegt haben. Zumindest vorerst.“

 

„Wie das?“, ich hielt die Spannung langsam nicht mehr aus.

 

„Komplizierte Kiste“, Snowflake scharrte mit einer Vorderpfote auf dem Waldboden. „Wie du weißt, hat Minna ja vor einigen Monaten Nero, den bisherigen Anführer der Unheilvollen, aus seiner Position verdrängt. Minnas neue Strategie gefiel dem alten Nero nicht. Ihr Plan war bzw. ist es wahrscheinlich immer noch, sowohl die magische als auch die menschliche Welt nicht durch Schlachten zu bekämpfen, sondern sukzessive zu unterwandern, in dem sie wichtige Posten in beiden Welten mit ihren Leuten besetzt. Mathilda (die Schwester von Rosalie, beides magische Hyänen) hatte sie ja bereits erfolgreich in den Vorstand gebracht. Wir vermuten, dass ihre Wahl durch irgendeinen Zauber manipuliert war. Für die menschliche Welt hat sie etliche der Gestaltwandler*innen angeworben, damit diese wichtige Ämter in Politik, Regierungen etc. besetzen. Deine Rosalie (Wieso nannten die eigentlich alle immer MEINE Rosalie?) hat’s wohl vermasselt und ist deswegen in diesem Amt gelandet und nicht auf dem Posten, für den sie sich eigentlich beworben hatte. Minnas Ansatz, beide Gesellschaften von innen heraus zu zerstören, dauerte Nero zu lang. Sein Ziel war noch immer das alte: erst mal die magische Welt durch Krieg zu unterwerfen und dann eine Dimension nach der nächsten anzugreifen.“

 

Nero, ein rotgetigerter Kater, hatte, so lange ich denken konnte, an der Spitze der Unheilvollen gestanden.

 

„Und so hat Nero“, erzählte Snowflake langsam weiter, „mit Hilfe seiner Anhänger*innen vor etwa einem Monat eine Revolte gegen Minna angezettelt, um sie zu stürzen. So wie ich das sehe, fand er das wohl einen günstigen Zeitpunkt, da Minnas Gruppe insofern geschwächt war, dass ein Teil ihrer Anhänger*innen aufgeflogen war. Das Ganze war eine ziemlich blutige Angelegenheit, laut Wilma. Ihre Kopfverletzung stammt aus dieser Schlacht. Die Verluste auf beiden Seiten sind wohl hoch; aber da beide Gruppen in etwa gleich stark sind, war schnell absehbar, dass keine der beiden die andere würde besiegen können. Minna ist mit ihrer Gruppe, als ihr das klar wurde, in eine uns noch unbekannte Dimension geflohen, Nero ist ins Bergland geflüchtet. Er hat wohl auch schwere Verletzungen davongetragen. Von beiden Gruppen haben nicht viele Mittiere überlebt. Wilma, sie würde mir ja fast leid tun, wäre sie keine Unheilvolle, ist von Minnas Gruppe zurückgelassen worden, offenbar weil sie kurzfristig bewusstlos gewesen war. Sie hatte ne ziemliche Gehirnerschütterung und irrte dann orientierungslos durch die Gegend.“

 

(Kurz zur Erklärung: Das Bergland, in das sich Nero zurückgezogen hat, ist die Heimat der Trolle. Also, unserer Trolle, nicht eurer Internettrolle.)

 

„Ok, Schlachten, Tote und Verletzte sind immer schlimm. Aber wenn sich die Unheilvollen jetzt in zwei winzige Splittergruppen aufgeteilt haben, ist das für uns ja eher gut, oder? Warum seid ihr so angespannt?“, platzte ich heraus. Ich konnte die Stimmung der drei überhaupt nicht einordnen. Snowflake warf seiner Mutter einen hilfesuchenden Blick zu.

 

„Merlin“, begann Mascha sanft, „Nun … Was wir alle nicht wussten, Nero hatte eine langjährige Gefährtin. Sie befindet sich unter den Toten, wie uns Wilma erzählte.“ Sie hielt inne, während sich in meinem Magen ein merkwürdiger Klumpen bildete.

 

„Serafina?“, fragte ich heiser.

„Ja, tut mir leid.“, bestätigte Mascha meine Ahnung.

Mir wurde übel, mein Kopf schien leer zu sein und doch wirbelten jede Menge Bilder hindurch. Einzeln, wie Blitze. Meine Eltern, wie sie streiten. Angelo, der brüllend und fauchend durch unsere Unterkunft tobt. Meine Mutter Serafina, wie sie durch die Tür stürmt. Die Blicke und das Getuschel der anderen magischen Tiere, wenn sie mich sahen. Weitere Szenen, an die ich bis heute keine Erinnerung gehabt hatte. Ich schüttelte mich und atmete durch.

 

„Dann stimmt es also, meine Mutter gehörte zu den Unheilvollen. All die Gerüchte sind wahr“, flüsterte ich. Mascha nickte, während Spring dicht neben mich rückte, sodass ich ihre Wärme spürte. „Und sie ist tot“, ich weiß bis heute nicht, was ich in dem Moment fühlte, ob ich überhaupt etwas fühlte oder in einem Schock war.

 

„Und Angelo? Er hängt da auch mit drin, oder?“ Ich wollte es endlich wissen. Und zwar alles.

„Nein, nicht mehr“, fuhr Mascha fort, „wir haben in den letzten Tagen viel recherchiert, nachdem wir die Aussagen von Wilma hatten.“

Mascha machte eine kurze Pause, sie musste mir angesehen haben, dass in meinem Kopf schon wieder Erinnerungsfetzen durcheinanderwirbelten. Denn schlagartig wusste ich, woher ich Wilma kannte: Als ich klein war und noch bei Angelo lebte, war sie mal bei uns zu Hause aufgetaucht – und die beiden hatten eine mehr als heftige Auseinandersetzung.

„Nein, ich komme nicht zurück“, Angelo, brüllend und tobend, Wilma, die panisch unsere Unterkunft verlässt. Vergessen. Verdrängt. Wie so vieles. Wilma, vermutlich schon damals für die Akquirierung neuer und Betreuung alter Mittiere bei den Unheilvollen zuständig, hatte ihn wohl überzeugen wollen, zurückzukehren. Ich schluckte.

 

„Erzähl weiter“, bat ich Mascha mit zittriger Stimme.

„Ok. Deine Eltern kamen einige Jahre nach der großen Schlacht (das war etwa dreißig Jahre vor meiner Geburt; => Geschichte 7) zusammen. Serafina gehörte damals schon zu den Unheilvollen – oder besser gesagt zu dem jämmerlichen Rest, der davon übrig war. Die beiden kannten sich schon ewig und Angelo war schon immer in sie verschossen. Und irgendwann erwiderte Serafina seine Gefühle. Oder auch nicht, vielleicht war es auch Strategie, wusste sie doch, dass Angelo immer mit den Zielen der Unheilvollen sympathisiert hatte. So erzählte sie ihm irgendwann, dass sie zu ihnen gehörte und drängte Angelo, sich ihnen ebenfalls anzuschließen, was nicht schwierig gewesen sein dürfte. Nun, ich muss dir nichts über den Ehrgeiz deines Vaters erzählen, natürlich gefiel ihm nicht, dass die Unheilvollen in die Bedeutungslosigkeit verbannt worden waren. Er wollte genau wie Serafina mehr. Er wollte Macht über die magische Welt. Doch der damalige Anführer war alt und schwach und hatte keine großen Ambitionen mehr. Er starb ungefähr zu dem Zeitpunkt deiner Geburt. Da witterte Angelo seine Chance und bewarb sich um den Posten des Anführers. Überraschenderweise kandidierte auch Nero, ein gemeinsamer Freund von Serafina und Angelo, seit sie Kitten gewesen waren, und der kurze Zeit vorher von einer Mission in der menschlichen Welt in den Zauberwald zurückgekehrt war. Der erste Verrat in Angelos Augen. Nun, um es abzukürzen: Angelo erlitt eine Niederlage, Nero wurde Anführer. Als du ungefähr drei Monate alt warst, verließ Serafina Angelo und tat sich mit Nero zusammen. So wie es aussieht, hatte sie keine Lust mit einem ‚Versager‘ – und das war Angelo für sie nach der Niederlage – zusammenzusein.“

 

„Warum zum verflixten Feenstaub wussten wir das alles nicht?“ Ich sah Mascha verständnislos an.

„Nun, Angelo hat über die Gründe des Verschwindens deiner Mutter nie etwas verlauten lassen, wie du ja nur zu gut weißt. Und auch nicht darüber, wohin sie gegangen war. Nero lebte damals schon im Bergland, was vermutlich der Grund dafür ist, dass uns im Zauberwald nie zu Ohren gekommen ist, dass die beiden zusammen sind. Ich meine, das Bergland betritt von uns außer Konrad (das knurrende Killerkaninchen, das für uns Spion arbeitet) keins. Und warum der das nie erzählt hat, weiß der Geier … Angelo hatte natürlich kein Interesse daran, dass das bekannt wurde, hätte er doch selbst mit einem Gerichtsverfahren rechnen müssen. Jedenfalls“, Mascha atmete tief durch: „Angelo kehrte nach Serafinas Verschwinden den Unheilvollen den Rücken.“

 

Große Katze im Himmel, meine Familiengeschichte glich einem sehr schlechten Spionagefilm.

„Lass mich raten“, fauchte ich, „natürlich nicht, weil er erkannt hatte, dass die Unheilvollen grausame Ziele verfolgen, sondern aufgrund seines verletzten Egos.!“

Mascha nickte: „Ja, so sieht es aus. Letztendlich war es ein Glück, dass er verloren hat, denn Nero hat es rund 200 Jahre nicht auf die Reihe bekommen, die Unheilvollen wieder gut aufzustellen. Angelo wäre da ein anderes Kaliber gewesen, denke ich.“

 

„Großartig, Papa, danke sehr“, ich fauchte sarkastisch in die Runde.

„Merlin“, Mascha sah mich fest an, „dein Vater ist, höflich gesagt, ein sadistisches Arschloch. Was er dir angetan hat, ist durch nichts wieder gut zu machen. Er hat eine einzige richtige Entscheidung getroffen, die Unheilvollen zu verlassen– aber das auch nur aufgrund sehr zweifelhafter Gründe. Kein Grund, alles andere zu vergessen oder gar zu vergeben.“

Ich beruhigte mich ein wenig.

„Was passiert jetzt mit ihm?“, erkundigte ich mich.

„Nichts.“ Snowflake schaute mich frustriert an. „Maxi hat die Regeln rauf und runter gelesen. Das einzige, was wir ihm vorwerfen können, ist seine damalige Mittierschaft bei den Unheilvollen. Und das ist verjährt. Seitdem hat er sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen.“ Als er meinen Blick sah, fügte er schnell hinzu: „Zumindest nichts, was für eine Gerichtsverhandlung oder gar die sofortige Verbannung reichen würde.“

 

„Was habt ihr noch aus Wilma herausbekommen?“, ich hatte das Gefühl, dass das immer noch nicht alles war. Spring rollte mit den Augen.

„Leider nichts. Sie ist uns wieder entwischt, bevor Snowflake und Maxi sie weiter verhören konnten.“

„Bitte?“

„Ja, der Gorilla, der die Nachtwache hatte, ist eingepennt.“

Dieser Film, in dem ich hier ganz offensichtlich feststeckte, wurde immer schlechter.

„Noch was?“ Meine drei Lieblingswesen aus dem Zauberwald schüttelten zögernd, aber einhellig den Kopf. Hm. 

 

 

Foto von einem kleinen Tümpel, rechts, links und vorne mit hellem grünen Schilf umgeben. Im Hintergrund Laubbäume.
Freies Foto von Pixabay.

„Seid mir nicht böse, aber ich muss ein bisschen allein sein“, sagte ich schließlich in das Schweigen hinein. „Das ist …“, ich brach ab, „wir sehen uns später, ok?“ Die anderen nickten, besorgt guckend, und ich lief schnell zu meinem Lieblingsplatz, tief im Wald, zu einem winzigen See, eher ein Tümpel. Hier hatte ich mich als junger Kater immer versteckt, wenn mir alles zu viel wurde.

Meine Mutter, die ich nie wirklich gekannt hatte, war also tot. Hatte ich gehofft, sie doch eines Tages zu treffen? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Gesucht habe ich sie nie und Angelo Fragen zu stellen, war genauso sinnvoll, wie mit einem Kühlschrank zu reden (ein Spruch von Anna). Das hatte ich schnell aufgegeben.

Nero und die Unheilvollen waren Serafina wichtiger gewesen als ihr eigener kleiner Sohn. Bitter. Wirklich überrascht war ich trotzdem nicht; ich hatte es immer geahnt, geahnt, dass die Gerüchte wahr sind. Und doch war da auf einmal so unglaublich viel Schmerz, so unglaublich viel Sehnsucht. So unendlich viel Trauer. Und gleichzeitig so unendlich viel Erleichterung. Dass das Rätselraten ein Ende hatte, dass es ein böses Lebewesen weniger gab in diesem Universum.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich auf das trübe Wasser des kleinen Tümpels starrte, während die Gefühle und Gedanken Achterbahn in mir fuhren. Plötzlich hörte ich jedoch Pfotentappsen und drehte mich um. Unsicher bahnte sich die inzwischen urururalte Charly (=> Geschichte 6) ihren Weg durch das hohe Schilf, das den Tümpel umgab. Ich wollte ihr zur Hilfe eilen, doch sie winkte ab:

„Mach mich nicht klappriger, als ich bin.“

Spontan schossen mir die Tränen in die Augen, so vertraut war der ruppige Tonfall. Ja, dass Charly noch lebt, grenzt an ein Wunder; ich besuche meine Ausbilderin noch immer mehrmals im Jahr – langsam wird ihr körperlicher Verfall sichtbar.

„Guck nicht so. Ein paar Jahre habe ich schon noch“, Charly setzte sich neben mich.

„Spring ist ziemlich außer sich vor Sorge um dich – und ich habe ihr versprochen, dich zu suchen. Dachte mir nämlich, dass du dich hier verkrochen hast. So wie als kleiner Kerl“, sie schmunzelte.

„Das hast du gewusst?“ Charly nickte nur.

 

„Und alles andere? Hast du das auch gewusst? Also dass meine Eltern …“, setzte ich nach.

„Ja. An dem Abend, als ich zu Angelo gegangen bin, um ihm zu sagen, dass ich mich um deine Ausbildung kümmern würde,“

„Moment“, unterbrach ich sie. „Ich dachte, Angelo hätte mich zu dir gebracht. Weil du ihm noch einen Gefallen geschuldet hast oder so?“

„Nein. Ich bin zu ihm gegangen. Weil ich es nicht mehr ertrug, wie er meinen kleinen Neffen behandelte.“

 

Neffen?

 

Mir wurde schwindelig und das ganz ohne Feen-Magie. Ich musste mich verhört haben. War ja alles auch ein bisschen viel.

 

Doch Charly blickte mir fest in die Augen, als sie sagte: „Ja, Merlin, Angelo ist mein Bruder.“

„NEIN!“, jetzt schrie ich auf, was zu viel ist, ist zu viel, ich machte einen Satz in die Luft vor Schreck, Fassungslosigkeit, Wut – ich weiß es nicht. Jedenfalls ging die Landung natürlich schief und ich landete so halb in dem Tümpel. Charly sah, so wie sie es immer getan hatte, wenn ich schon als kleiner Kater beim Springen nicht da landete, wo ich hinwollte, weg und ließ mir Zeit mich zu berappeln, wusste sie doch, wie peinlich mir das war bzw. manchmal noch ist.

 

„Doch, er ist mein Bruder und ich somit deine alte Tante. Bereit für den Rest deiner Familiengeschichte?“, fragte sie schließlich. Ich nickte stumm.

 

„Angelo wurde etwa 30 Jahre nach mir geboren. Unsere Eltern – was soll ich sagen. Waren streng. Hart. Unerbittlich. Konservativ. Angelo fügte sich dem gut. Ich dagegen – ich hasste sie. Wollte weg. Wollte was anderes. Raus aus der Enge. Und so bin ich abgehauen. Noch bevor meine Ausbildung beendet war. (Oh, okay, erklärte ein bisschen meine chaotische Ausbildung, wenn sie selbst …) Ich habe überall gelebt, unter Feen, Elfen, Trollen und Menschen. In der Zukunft und in der Vergangenheit.“

„Warum bist du zurückgekehrt“, fragte ich, bevor Charly, wie sie es gerne tat, abschweifen konnte.

„Deinetwegen. Du weißt, wie viel in der magischen Welt getratscht und geklatscht wird. Ich habe eine Zeitlang im Bergland gelebt unter Trollen, dort kamen mir Geschichten zu Ohren über Serafina, deinen Vater – und dass es dich gibt. Ich wollte mich nur kurz überzeugen, dass es dir gut ging – und dann wieder weg. Aber es ging dir, einem 5-jährigen Knirps, nicht gut und ich blieb. Um ein Auge auf dich zu haben. Ich hatte meinen Namen geändert, weil er mich immer an meine verhasste Familie erinnerte, und durch einen magischen Unfall hatte sich meine Fellfarbe, meine Streifen waren früher viel, viel dunkler, verändert und so erkannte mich tatsächlich im Zauberwald außer Angelo kein Tier mehr. Zumal unsere Eltern sich damals für mein Abhauen so geschämt hatten, dass sie verbreitet hatten, dass ihre Tochter Carlotta gestorben sei. Ist sie letztendlich auch. Aus Carlotta war Charly geworden. Charly, eine Abenteurerin, die durch die Universen reiste.“ Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Angelo hatte wenig Lust, die alte Geschichte wieder aufzuwärmen und hielt den Mund darüber, wer ich war.“

 

„Was ist an dem Abend, als du bei ihm warst, passiert?“, mir schwirrte der Kopf fürchterlich, doch ich wollte nun einfach alles wissen.

„Angelo wollte mir natürlich nicht so einfach deine Ausbildung überlassen, auch wenn er nie wirklich Interesse an dir hatte …“

„Nie wirklich Interesse?“, ich unterbrach Charly fauchend, „er hat mich gehasst wegen meiner Behinderung und vermutlich auch wegen Serafina.“

Charly sah mich an: „Ja, er hasst dich. Wie er alle Lebewesen hasst. Die einzige Ausnahme war wohl deine Mutter.“ Sie schnaubte. „Also, ich habe ihm an jenem Tag gedroht, die Geschichte, öffentlich zu machen und eine Untersuchung zu fordern. Ich hatte fünf Jahre lang Beweise gesammelt. Und damals war seine Mittierschaft bei den Unheilvollen noch nicht verjährt. So schlossen wir einen Pakt: Er würde mir deine Ausbildung überlassen und für sich behalten, dass ich seine Schwester war, dafür würde ich meinen Mund halten.“

 

„Warum? Warum hast du ihn geschützt? Warum hast du mir nie gesagt, dass du meine Tante bist?“, ich verstand es nicht. „Deinetwegen. Der Zauberwald war damals noch so anders als heute, viel traditioneller, tief verankert in einem Schwarz-Weiß-Denken. Gut oder böse, keine Zwischentöne. Du hattest es eh schon so schwer. Ich wollte dir nicht noch mehr aufbürden. Sohn zweier Unheilvollen, Merlin? Du hättest nie eine Pfote in der magischen Welt auf den Boden bekommen. Hättest du gewusst, dass wir beide verwandt sind, Merlin, du hättest doch ohne Ende Fragen gestellt und nicht geruht, bist du die ganze Geschichte ausgegraben hättest. Je weniger du wusstest, umso besser für dich.“

 

Ich starrte finster vor mich hin. Sohn zweier Unheilvoller. Das, was ich fast 200 Jahre lang befürchtet hatte, war wahr. Ich schnaubte, verzweifelt, traurig, wütend? Wahrscheinlich alles.

„Merlin, du bist ein großartiger Kater. Du hast Freund*innen, die an deiner Seite stehen, die Wilmas Aussagen auf Herz und Nieren geprüft haben, bevor sie es dir erzählten, weil sie dich nicht unnötig belasten wollten. Du hast ein tolles Zuhause – du machst gute Arbeit hier im Zauberwald und in der Welt der Menschen. Du bist verliebt und wirst geliebt. Du hast so viel erreicht. Ich weiß, das macht den Schmerz nicht weg. Aber vergiss das Gute in deinem Leben nicht. Du bist nicht wie deine Eltern.“

Ihr Blick ruhte fest auf mir und ich hielt mich an ihm fest. Naja, und dann hatte ich wohl den ersten Nervenzusammenbruch meines Lebens; mir knickten die Pfoten weg und ich heulte fast eine Stunde, am schlammigen Ufer des kleinen Tümpels. Charly saß dicht neben mir und schnurrte leise. Irgendwann versiegten die Tränen und ich rappelte mich auf, innerlich ziemlich leer.

 

„Ich muss zurück.“ Der Stand der Sonne zeigte mir, dass es auf den Abend zuging. Und wie ihr wisst, lasse ich Anna&Co nachts nicht gern allein. Sie nickte und so machten wir uns langsam auf den Weg zu Maschas Unterkunft, wo – wie ich richtig vermutet hatte – Spring, Snowflake und Mascha auf mich warteten. Spring lief mir die letzten Meter entgegen.

„Bist du okay?“, fragte sie, als sie vor mir stand.

„Nein. Aber irgendwann werde ich es wieder sein.“

Bei den anderen angekommen, schob mir Mascha was zu essen hin. „Hier. Du hast seit heute früh nichts in den Magen bekommen, denke ich mal.“

„Stimmt“, bestätigte Charly und machte sich dann fix davon. Sie mochte die Gesellschaft anderer Tiere noch immer nicht.

Ich zwang mir ein paar Brocken runter und erklärte dann: „Ich muss zu Anna zurück.“

„Ich komme mit, okay?“, Spring sah mich an. „Dann kannst du schlafen – und ich kümmere mich um Anna und die anderen. Das klappt schon.“

„Ich …“, ich wollte protestieren, doch mit einem Mal überrollte mich die Erschöpfung mit Macht. Ich konnte kaum noch stehen. Einige von euch werden das kennen, denke ich.

„Verspring dich nicht, Kumpel“, sagte Snowflake. Uff, er hatte recht, das konnte ich jetzt nicht gebrauchen, dass ich versehentlich im Jahr 3050 oder so landete. So nahm ich das letzte bisschen Konzentration zusammen, fixierte mich auf Annas Bett und sprang mit Spring zurück.

 

Ich landete dort, wo ich hinwollte, und muss auf der Stelle eingeschlafen sein. Auch die nächsten drei Tage schlief ich fast nur. Dann kehrten nach und nach meine Lebensgeister zurück. Spring blieb so lange, bis ich wieder auf den Pfoten war, und managte das mit Anna und den anderen wohl wirklich gut. Haben mir alle bestätigt. Und sie macht im Haushalt weniger kaputt als ich, die Bemerkung hatte sich Anna nicht verkneifen können. Hm. Ja. Schon klar.

 

So, meine Zauberhaften, alle Familiengeheimnisse gelüftet. Eine recht düstere Geschichte, ich weiß. Aber der Zauberwald, so schön, wie er ist, ist eben auch kein Ponyhof. Mir geht es inzwischen wieder gut. Charly hat recht: Ich habe ein gutes Leben – und ich bin, auch dank ihr, nicht so wie meine Eltern.

 

Das war es für heute, das nächste Mal wird es wieder etwas leichter und heiterer, versprochen. Ihr dürft mir wie immer gern einen Kommentar hier oder auf meinen Social Media Accounts hinterlassen. Wir lesen uns.

 

Bis bald, es grüßt euch herzlich euer Merlin. 

 

Nachtrag:

 

Miau und hallo, meine zauberhaften Fans,

 

es gab nach Veröffentlichung dieser Geschichte von einer Leserin eine wichtige Anmerkung zu Charlys Verhalten. Und zwar zu dem Umstand, dass diese mir fast 190 Jahre lang nicht die Wahrheit gesagt hat.

 

Ich kann die Kritik gut verstehen. Geheimnisse sind immer Mist! Ich war tatsächlich eine Zeitlang recht wütend auf Charly. Doch unterm Strich überwiegt zumindest für mich das Positive. In vielen anderen Situationen und Konstellationen ist das mit Sicherheit anders.

Charly hat für mich ihr Leben als Abenteurerin aufgegeben und dafür gesorgt, dass sie diejenige ist, die mich ausbildet. Dadurch hatte Angelo nicht mehr die Möglichkeit, mich Tag für Tag zu drangsalieren, zu verspotten und zu quälen. Insofern hat sie mich – auf ihre Art – beschützt.

 

Ja, meine Jugend im Zauberwald war trotzdem schwierig. Aber ohne dass Charly im Hintergrund hin und wieder eingegriffen hätte, wäre sie die Hölle gewesen. (Dazu ein anderes Mal mehr.)

 

Und ja, meine Ausbildung lief chaotisch. Aber weitere 50 Jahre Tag für Tag allein mit Angelo? Nein, danke. Dass er immer wieder meine Fehler beobachtete und kommentierte, war scheußlich genug.

 

Insofern bin ich inzwischen mit Charlys Entscheidung im Reinen, auch wenn ich jederzeit unterschreibe, dass die Wahrheit zur rechten Zeit definitiv die bessere Entscheidung ist.

 

Von daher vielen Dank für die Kritik/Anmerkung. Das war wichtig!

 

 

Euer Merlin. 

Kommentare: 4
  • #4

    firefly (Mittwoch, 26 Juli 2023 17:24)

    eine liebevolle person (oder katze) reicht, um schlimme oder schlimmste dinge auszugleichen. sie macht nicht alles wie durch zauberhand gut (nicht mal im zauberwald), aber sie hilft.

  • #3

    Ginny (Donnerstag, 20 Juli 2023 06:50)

    Traurig, aber wunderschön.

    Genau wie der ganze Blog.

    Danke dafür.

  • #2

    @energiepirat (Dienstag, 18 Juli 2023 20:22)

    Miau, das ist spannend und sehr ergreifend. Ich sehe so einige Parallelen mit meinem Leben. Sehr fesselnd! Viel Glück.Ich freue mich auf die nächste Episode.

  • #1

    Noch ein Merlin :-) (Dienstag, 18 Juli 2023 19:45)

    Hallo Merlin, jaaaa ... dass mit der Macht halt... ;-)
    Es ist wieder eine tolle Geschichte, die wie aus dem Leben ist. Dort herrscht auch noch ständig Heiterkeit. Und klar, auch im Zauberwald ist das ähnlich, aber du und die Deinen, ihr löst die Probleme, auf eure wunderbare Art.
    Urlaub steht nun bei dir an. Und der ist mehr als wohlverdient. Mein Dosenöffner und ich wünschen dir ganz viel Spaß, Entspannung, Glück und alles was zur Erholung dient.
    Komm gesund wieder. Bis bald, Merlin