6. Die Bewährungsprobe

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

ich hatte ja angekündigt, euch eine der Geschichten aus dem Zauberwald zu erzählen, die die Innenkinder immer wieder gern zum Einschlafen hören.

 

Also, die Geschichte handelt von dem Abenteuer am Ende meiner 50-jährigen Ausbildungszeit im Zauberwald. In dieser Zeit lernen wir magischen Tiere, wie wir unsere Magie einsetzen und mit ihr umgehen. Uns all das beizubringen, obliegt eigentlich den Eltern. Nicht so in meinem Fall.

 

Warum, fragt ihr?

 

Nun, Angelo, meinen Vater, habt ihr ja schon kennengelernt, in der Geschichte 5. Ein Elchabenteuer und seine Folgen). Sein einziges Interesse an mir, vom Tag meiner Geburt an, besteht darin, mich zu schikanieren, wo immer es geht. Ich weiß nicht, warum er mich so hasst, ob der Grund dafür mein angeborenes Springhandicap ist, für das er mich schon immer verachtet hat, oder ob er grundsätzlich ein fieser, sadistischer Mistkerl ist.

 

Und meine Mutter?

 

Tja, die habe ich nie kennengelernt. Sie verschwand einige Zeit nach meiner Geburt und alle, die ich je gefragt habe, scheinen nichts zu wissen oder nichts wissen zu wollen. Es wird lediglich gemunkelt, dass sie zu jenen Magischen Tieren gehört, die die „Unheilvollen“ genannt werden und genau solche Ziele verfolgen. Auch über Angelo existieren solche Gerüchte.

 

Als ich alt genug war, mit meiner Ausbildung zu beginnen, hatte Angelo mich zu Charly, einer graugetigerten, äußerst schrulligen Katze im Greis*innenalter abgeschoben. Dass er ausgerechnet sie auswählte, mutete auf den ersten Blick recht überraschend an, denn Charly lebt bis heute sehr zurückgezogen und meidet die anderen magischen Tiere eigentlich, wo sie nur konnte. Doch in jungen Jahren waren Angelo und sie angeblich befreundet gewesen und offenbar schuldete sie ihm einen Gefallen. Jedenfalls glaubte ich das damals.

 

So kam es, dass sie anstelle meiner Eltern meine Ausbildung übernahm, die nun, gelinde gesagt, recht chaotisch verlief, was nicht nur dazu geführt hatte, dass ich bei den Prüfungen echt schlecht abschnitt, sondern auch dazu, dass ich bis heute relativ einfache Magie oft nicht so wirklich gut hinbekomme. Aufgrund ihres Alters war Charly sehr vergesslich geworden, verlor ständig den Faden inmitten ihrer Ausführungen oder verwechselte die magischen Sprüche. Aber sie mochte mich und sie war weise; ich habe bei ihr gelernt, dass es wichtigere Dinge gibt als Regeln und magische Sprüche. Das allerdings begriff ich erst viel später.

 

Nun standen Charly und ich also etwa zwei Kilometer von der Grenze zum Zauberwald entfernt an einer Weggabelung. Ihr müsst wissen, dass die Magische Welt sehr viel größer ist als der Zauberwald. Auch wenn dies sicherlich der schönste Teil ist.

 

Es war noch sehr früh am Morgen und der letzte Tag der Woche meiner Abschlussprüfungen war gerade angebrochen.

 

Jepp, auch wir magischen Tiere müssen Prüfungen bestehen, sowohl praktische als auch eine theoretische zum Regelwerk des Rates der Magischen Tiere. Ich hasse Theorie. Nun lag die letzte Aufgabe vor mir: die Bewährungsprobe außerhalb des Zauberwaldes. Ärgerlicherweise hatte Angelo auf seinem Recht bestanden, sich diese Herausforderung auszudenken. Er war mein Vater, es stand ihm zu, auch wenn Charly mich ausgebildet hatte und sein einziger Beitrag in den letzten Jahren darin bestanden hatte, meine Fort- und vor allem meine Rückschritte zu beobachten und jeden meiner Fehler verächtlich zu kommentieren.

 

„Du schaffst das“, sagte Charly nun.

 

Ich schluckte, es war der Moment gekommen, mich von ihr zu verabschieden, denn die Bewährungsproben müssen junge magische Tiere allein ohne jedwede Begleitung oder Hilfe bewältigen. – Und danach? Nun, es ist üblich, dass magische Tiere nach der letzten Prüfung nicht mehr bei den Eltern bzw. Ausbilder*innen wohnen. Ich brauchte dann ein neues Zuhause.

Daher sträubte sich in mir alles dagegen, ihr jetzt „Auf Wiedersehen“ sagen zu müssen, war sie doch die letzten 50 Jahre Tag und Nacht an meiner Seite gewesen. Als einzige. Ich hatte damals noch keine richtigen Freund*innen, auch wenn ich heute weiß, dass es durchaus magische Tiere gab, die mich schon als jungen Kater mochten. Doch ich zweifelte so sehr an mir, hatte null Selbstbewusstsein – und dann noch meine Behinderung. Genau wie Charly hielt ich mich von den anderen magischen Tieren lieber fern.

 

Doch Charly fuhr fort: „Du brauchst mich jetzt nicht mehr. Folg einfach dem linken Weg. Hör auf dein Herz und deine Intuition, dann wirst du Erfolg haben.“

Sprach es und schickte sich an zu gehen.

„Ach, eins noch“, sie drehte sich noch einmal zu mir um, „denk an Regel 371a. Oder war es 372b?“

 

Kurz starrte sie verwirrt in die Luft, dann machte sie sich auf den Rückweg zum Zauberwald.  „Folge deinem Herzen und vergiss die Regeln nicht“, wiederholte ich brummelnd Charlys Worte. Das war so typisch für sie, bedeutungsschwere Worte und dann ein schnöder Verweis auf das Regelwerk.

 

Ich atmete tief durch und setzte mich in Bewegung. In Gedanken ging ich die Aufgabe durch, die mir Angelo gestellt hatte. Seine Worte hallten noch in meinem Kopf nach:

„Besorg das Halsband der Steinernen Katze. Denk dran, dass du das alleine bewältigen musst. Du darfst niemanden um Hilfe bitten“, sein stechender Blick hatte dabei unerbittlich auf mir geruht.

 

Ich schluckte bei der Erinnerung daran. Mit seinem ganzen massigen Körper hatte er die Gewissheit ausgestrahlt, dass ich scheitern würde. Niemals, schwor ich mir, während ich weiter den Weg entlanglief, zu dem Charly mich gebracht hatte. Ich hatte keinen Schimmer, was die Steinerne Katze war, aber ich würde nicht versagen.

 

Der Weg schlängelte sich durch Wiesen und kleine Wäldchen und war zunächst recht schön. Am Abend des ersten Tages begann die Landschaft karger zu werden, der Weg steiniger und steiler. Bäume gab es nur noch vereinzelt. Streckenweise führte der Weg an einem Fluss entlang, dann wieder bergauf zwischen rauen Felsen hindurch. Ich beschloss die Nacht in der Nähe des Flussufers zu verbringen, an einer Stelle, an der es zumindest noch ein bisschen Gebüsch – oder eher Gestrüpp – gab.

 

Ihr glaubt nicht, was ich für wirres Zeug geträumt habe in jener Nacht, die erste seit so vielen Jahren ohne das beruhigende Schnarchen von Charly in meiner Nähe. Ja, ich vermisste diese seltsame, verwirrte alte Katze sehr. So war ich mir, als ich erwachte, zunächst nicht sicher, ob das „Yippie Yeah“, gefolgt von einem lauten Platschen, noch zu einem Traum gehörte oder real war. Die panischen Schreie jedoch, die ich nun vernahm, ließen mich endgültig wach werden.

 

Da schrie jemand um sein Leben.

 

Ich sprintete die paar Meter bis zum Ufer des Flusses, in dem ein kleines Tier strampelte und zappelte und immer wieder unterging. Ohne Nachzudenken warf ich mich in den Fluss und paddelte gegen die Strömung zu dem kleinen Wesen. Als ich es erreicht hatte, sah ich, dass es sich um ein magisches Schneeleopardenbaby handelte, das gerade von seinen Kräften verlassen zu werden drohte und erneut unterging. In letzter Sekunde erwischte ich es an seinem Nackenfell und zog so seinen Kopf wieder über Wasser.

 

Jo, da war ich also, mitten im Fluss, dessen Strömung hier deutlich stärker war als in Ufernähe, ein zappelndes Leopardenbaby in der Schnauze, das schon genauso groß war wie ich – und genauso schwer, sodass es uns beiden drohte, unter Wasser gezogen zu werden. Grandios, Merlin, grandios, schoss es mir durch den Kopf, als die nächste heftige Welle uns erfasste, und hörte innerlich Angelo triumphierend lachen. Von Wut erfasst, strampelte ich stärker und hielt uns knapp über Wasser. Der Kleine war mit seinem panischen Gezappel keine große Hilfe. Verzweifelt warf ich einen Blick zum Ufer, von dem wir uns immer weiter entfernten, und sah eine wunderschöne Schneeleopardin, die just in diesem Moment einen Magiestrahl abfeuerte, der sich wie ein rettendes Netz um das Kleine und mich schlang und ans Ufer zog.

 

In der Tat, der Einsatz von Magie wäre eindeutig die bessere Lösung gewesen, statt mich einfach kopflos in die Fluten zu stürzen, dachte ich, während ich auf das Ufer geschleudert wurde und den kleinen Leoparden losließ. Irgendwie war ich da einfach nicht draufgekommen. Ja, lacht nur. Zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben zweifelte ich stark an mir und meinen Fähigkeiten.

 

Ich sah, dass sich die Leopardenmutter ausgiebig um ihr Junges kümmerte, und versuchte, mich trocken zu putzen. So klischnass wie ich war, ein hoffnungsloses Unterfangen, und so triefte ich noch vor mich hin, als sich die Leopardin an mich wandte.

 

„Ich bin Mascha – und das …“, sie zeigte auf ihren Sohn, der sein Abenteuer bereits vergessen zu haben schien und unbekümmert seinem Schwanz nachjagte, „… ist Snowflake.“

 

Ich wollte mich gerade vorstellen, als mich ein warmer magischer Strahl umfing und in Sekundenschnelle trocknete. Verdammter Feenstaub, schon wieder. Ich sollte wirklich mal ernsthaft über den Einsatz von Magie nachdenken. War das peinlich, aber Mascha sah mich mit ihren blauen Augen voller Wärme an.

 

„Danke“, murmelte ich. „Ich habe zu danken. Du hast Snowflake das Leben gerettet.“

 

Ich verzog das Gesicht. Naja, und ohne sie wären wir wohl eher beide ertrunken.

 

„Komm, lass uns erst mal frühstücken“ schlug sie vor, bevor ich widersprechen konnte.

 

Gesagt, getan. Mascha fing uns ein paar Snacks und wir zogen uns in einen der kargen Büsche zurück. Dabei erzählte sie mir, dass sie mit Snowflake auf dem Rückweg zum Zauberwald gewesen war, nach einem Verwandtenbesuch, und weiter oben am Hang zwischen den Felsen übernachtet hatte. Der Kleine hatte die unangenehme Angewohnheit, sich davon zu schleichen, wenn seine Mutter schlief. Sie war genauso wie ich von seinen Schreien erwacht – und erreichte das Ufer erst, als Snowflake und ich bereits gemeinsam im Fluss trieben.

 

„Und du“, fragte sie schließlich. Ich stellte mich endlich vor und berichtete davon, dass ich auf meiner Bewährungsprobe sei.

„Was ist deine Aufgabe?“

„Das Halsband der Steinernen Katze zu meinem Vater zu bringen.“ Bei dem Wort Vater verdrehte ich die Augen.

„Oh“, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. „Wir begleiten dich.“

„Das dürft ihr nicht“, protestierte ich.

„Weißt du, wo sich die Steinerne Katze befindet?“

Ich verneinte. Ich wusste nur, dass ich diesem Weg folgen sollte.

„Das ist so ziemlich die fieseste Aufgabe, von der ich je gehört habe“, sagte Mascha, „du wirst Hilfe brauchen.“

Erneut protestierte ich, denn gemäß der Regeln musste ich das alleine schaffen.

„Nein. Nicht ganz. Es gibt eine Ausnahme.“

Mir dämmerte es. „Regel 371a?“

Sie schüttelte den Kopf: „372b. Du darfst Hilfe annehmen, wenn sie von einem Tier kommt, dem du auf deiner Reise geholfen hast.“

„Hat Charly dich geschickt?“, fragte ich empört. Sie sah mich verwirrt an. Knapp berichtete ich ihr von Charlys letzten Worten an mich.

Mascha schüttelte energisch den Kopf: „Ich denke, sie hatte einfach mal wieder eine ihrer Vorahnungen.“

Ja, ok, möglich. Hin und wieder war Charlys Intuition so stark, dass sie fast hellseherische Fähigkeiten hatte.

 

„Merlin“, setzte Mascha erneut an. „Die Steinerne Katze befindet sich auf der anderen Uferseite innerhalb eines riesigen, hohlen felsigen Gebildes, das aussieht wie ein Menschenzahn.“

Bitte? Ich starrte sie an. Geografie war, nebenbei bemerkt, eins meiner schlechtesten Fächer gewesen.

„Da drüben“, sie zeigte auf das andere Ufer, „liegen die Steinernen Gärten; sie beginnen irgendwo am Fuß dieses Felsens, in den du hineinkommen musst.“

 

Dreimal verdammter Feenstaub. Die Steinernen Gärten sind der Ort der Verbannung in der magischen Welt, wo sämtliche Magie versagt und sich jede Menge finsterer Gestalten herumtreiben.

 

„Was für ein …“, ich schluckte das Schimpfwort, das ich in Bezug auf Angelo im Kopf hatte, herunter. Hier war schließlich ein Leopardenbaby anwesend.

„Ok, ihr könnt mich begleiten. Aber die Aufgabe löse ich allein“, in dem Punkt blieb ich stur.

 

So machten wir uns gemeinsam auf den Weg und erreichten nach etwa drei Tagen den Gipfel des Berges: eine Plattform, auf der nur einige verdorrte Bäume und nun wir herumstanden. Weit unter uns bahnte sich weiterhin der Fluss seinen Weg; allerdings war er hier noch reißender als zu Beginn. Ich sah auf das gegenüberliegende Ufer: Dort erstreckten sich nach wie vor die Steinernen Gärten – eine weite Ebene, gespickt mit bizarr geformten, mächtigen Felsen, wie schon seit Beginn meiner Wanderung. Direkt am Fluss ragte ein zerklüftetes Felsgebilde weit in den Himmel, um vieles höher und breiter als alle anderen; es hatte in der Tat die Form eines menschlichen Zahns! Auf etwa unserer Höhe gab es auch drüben eine kleine Plattform, von der aus eins offenbar in den Felsen gelangen konnte. Ganz großartig. Nicht. Ich schätzte die Entfernung auf 50 bis 60 Meter. Keine Chance, nicht mal mit Magie würde ich den Sprung schaffen. Um Sprungkraft magisch verstärken zu können, muss eins erstmal springen können.

 

Mascha sah mich an: „Ich komme da rüber. Braucht zwar jede Menge Magie, aber ist machbar. Ich kann dich mitnehmen oder alleine springen.“

„Nein“, ich blieb stur und wandte mich ab. Entweder fand ich eine Lösung oder ich würde in den reißenden Fluten landen. Angelos Plan war so genial wie fies. Er wusste, dass ich den Sprung nicht schaffen würde, und von der anderen Uferseite kam ich aufgrund der Steinernen Gärten nicht an den Zahn heran, ohne meine magischen Kräfte zu verlieren. Er hatte mir mit voller Absicht eine Aufgabe gestellt, die ich nicht würde schaffen können. Wütend verkroch ich mich ein Stück abwärts in einem Gebüsch, wo ich die Nacht halb schlafend, halb grübelnd verbrachte; das Krächzen dieser elenden Krähen, die uns schon den ganzen Weg begleiteten, machte es nicht besser. Nicht einmal nachts hielten die ihren Schnabel.

 

Geweckt wurde ich durch freudiges Gejauchze von Snowflake. Lebewesen aller Art, die morgens schon gute Laune haben, sind mir ja echt suspekt. Als ich die Plattform betrat, sah ich den Kleinen an einem langen Seil, das Mascha an einem der verdorrten Bäume festgeknüpft hatte, klettern und schaukeln.

 

Wo sie das her hatte? Nun, die meisten magischen Tiere haben auf Reisen einen praktischen großen Lederbeutel dabei, in dem sich nützliche magische Gegenstände und häufig recht viel Krimskrams befinden; als Prüfling war es mir nicht gestattet, Gepäck mitzunehmen.

Snowflake rannte mir freudig entgegen, als er mich sah, und drängte mich, doch auch an dem Seil zu spielen. Wie alle Babys war er sehr hartnäckig und – ja, zugegeben – niedlich, sodass ich schließlich nachgab und mich ungeschickt an das Tau klammerte. Er stupste mich an, ich schaukelte ein bisschen hin und her. So weit ganz nett.

 

Bis ich plötzlich mit solcher Wucht angeschubst wurde, dass ich über die Schlucht hinweg schwang, während ich Mascha rufen hörte: „Lass los, wenn du drüben bist!“

 

Bitte? Ich hatte keine Zeit genauer nachzudenken, denn ich raste schon, an einem offenbar magischen Seil hängend, auf das gegenüberliegende Plateau zu. Zum Glück schaffte ich es, im richtigen Moment loszulassen. Die Landung tat richtig weh, sag ich euch. Nur Sekunden später landete Mascha mit Snowflake in der Schnauze neben mir.

„Super Lösung, oder?“, fragte sie stolz, während sie meine Schrammen mit Magie heilte.

Ich grummelte ein „Hervorragend. Danke“ hervor.

„Nun, gut, also auf zu dieser Steinkatze“, fuhr ich fort, nachdem ich einen Moment durchgeatmet hatte, und tapste auf den Eingang zu, gefolgt von Mascha und Snowflake.

 

Es ging einen schmalen Gang entlang bis in eine Höhle, in deren Mitte eine Katzenskulptur auf einem Sockel stand.

 

„Ok, der Teil war wenigstens einfach“, murmelte ich, während ich das glitzernde Halsband der Steinfigur betrachtete. Schon wieder zu hoch, verflixter Feenstaub. Trotzdem fing ich an, ehrgeizig, wie ich damals nun einmal war, diese glatte Skulptur hochzuklettern.

„Nein“, Mascha zog mich runter. „Ich vermute, dass meine Magie im Innern des Felsens schon eingeschränkt ist. Also lass das, wenn du dich verletzt, kann ich dir vermutlich nicht helfen.“

 

Ich knurrte frustriert, aber eigentlich war es jetzt auch egal. Hätte mich Mascha nicht auf das Seil gelockt und mit einem Pfotenhieb über den Fluss katapultiert, säße ich immer noch auf der anderen Seite fest. Also kletterte ich auf Mascha und platzierte mich in ihrem Nacken. Nachdem Mascha sich aufgerichtet hatte, kam ich problemlos an das Halsband. Den Verschluss mit den Pfoten aufzubekommen war einfach. Ich mag zwar insgesamt ein Tollpatsch sein, aber mit den Vorderpfoten bin ich äußerst geschickt. Wieder unten, das Halsband fest in der Schnauze, war ich ziemlich stolz. Ich würde die Aufgabe halbwegs regelkonform lösen.

 

Nimm das, Angelo, dachte ich noch, als Mascha panisch anfing, nach Snowflake zu rufen.

Oh, nein! Der Kleine hatte sich mal wieder heimlich davon gemacht. Wir sahen beide gleichzeitig zur linken Wand der großen Höhle – und nur noch eine Schwanzspitze in einer sehr schmalen Öffnung verschwinden. Mascha kreischte, sprang zur Wand und schob ihre Pfoten in die Öffnung.

 

Zu spät.

 

Wohin auch immer Snowflake verschwunden war, er war außerhalb ihrer Reichweite. Ich überlegte nicht lange, ließ das Halsband fallen, rief Mascha zu, sie solle auf das verdammte Ding aufpassen, und folgte Snowflake durch die kleine Öffnung. Kaum drin, kam ich ins Stolpern und Rutschen, denn es ging sehr kurvig sehr steil bergab. Oben hörte ich Mascha schreien, irgendwo vor mir Snowflake. Mittlerweile auf dem Bauch gelandet, schoss ich diese felsige Rutschbahn mehrere hundert Meter lang herunter, bis ich schließlich aus dem Felsen herausgeschleudert wurde und auf etwas Pelzigem landete. Snowflake. Nur gut, dass ich relativ leicht bin. Der Kleine atmete genauso schwer wie ich.

 

„Alles gut, ich bin da“, murmelte ich und inspizierte ihn. Genauso wie ich hatte er nur ein paar Schürfwunden. Gut. Ich blickte mich um.  Wir waren wenige Meter vom Flussufer entfernt gelandet, am Fuße des steinernen Zahnes. Ich stand auf und wollte ein paar Schritte gehen, als ich spürte, wie ein eisiger Wind mich erfasste.

 

Oha. Nur wenige Pfotenschritte von uns entfernt begannen also die Steinernen Gärten, deren Grenzen nicht sichtbar sind, nur spürbar, hatte Mascha mir während unserer Reise noch erklärt. Je näher eins ihnen kommt, desto eisiger wird es. Nur ein Schritt zu weit Richtung Landesinnere und Snowflake und ich würden unsere Magie  für immer verlieren. Rasch schob ich den Kleinen dichter ans Ufer. Ok, hier wars besser.

 

„Merlin, Snowflake“, hörte ich Mascha rufen und sah nach oben. Sie stand auf dem Plateau oben auf dem Felsen – und schien so verzweifelt, dass sie runterspringen wollte.

„Nein“, brüllte ich zu ihr hoch.

„Zu wenig Magie, ich kann euch nicht hochholen“, sie war völlig außer sich.

„Nein, spring nicht hier runter.“

Verflixt, das war auch für sie zu tief.

„Spring wieder ans andere Ufer. Und lauf am Fluss entlang. Wir tun dasselbe. Irgendwo wird es eine Stelle geben, wo du rüberkommen kannst“, wies ich sie an und hielt den Atem an.

„Ok“, stimmte Mascha zu und setzte zum Sprung über den Fluss an, flog elegant drüber und landete sicher. Beeindruckend.

 

Ich schnappte mir den ungewöhnlich stillen Snowflake, er hatte wohl doch einen Schock, und schärfte ihm ein, nicht von meiner Seite zu weichen. Dann setzten wir uns entlang des Flusses in Bewegung. Der Kleine und ich auf der einen Uferseite, Mascha auf der anderen, das Halsband in der Schnauze. Snowflake und mir blieb wirklich nur ein sehr schmaler Pfad am Ufer, der außerhalb der Steinernen Gärten lag. Ich habe schon entspanntere Spaziergänge unternommen.

 

Mascha versuchte immer wieder, uns mit einem magischen Rettungsstrahl zu erreichen, aber der Fluss war zu breit dafür, und zum Schwimmen war er hier noch viel zu reißend. Einfach rüberzuspringen, war zu gefährlich, verkalkulierte sie sich nur ein wenig bei der Landung, würde sie für immer in den Steinernen Gärten festsitzen. So brauchte es einen halben Tag, ich hatte ein mittlerweile quengelndes Leopardenbaby im Schlepptau, bis wir eine Stelle erreichten, wo der Fluss ruhiger war. Die Grenze zu den Steinernen Gärten verlief weiterhin sehr dicht am Ufer und strahlte eisige Energie ab, sodass ein direkter Sprung weiterhin zu gefährlich war. Doch es ragten etliche Steine aus dem Wasser, die Mascha für Zwischenlandungen nutzen konnte. Und so setzte sie mit zehn, elf eleganten Sprüngen von Stein zu Stein endlich zu uns rüber.

 

Als ich die freudige Begrüßung zwischen Mutter und Sohn beobachtete, musste ich ein wenig schlucken. Naja, ihr kennt das wahrscheinlich.

 

„Du bleibst hier“, wies mich Mascha an, „ich bringe erst ihn rüber, dann komme ich zurück und hole dich.“

 

Das wäre ja noch schöner, dachte ich und sah mir genau an, welche Steine Mascha für Zwischenlandungen benutzte. Sooo weit lagen die nicht auseinander. Kürzen wir es ab, ich schaffte es nicht mal bis in die Flussmitte, dann hing ich auf einem glitschigen Felsen fest. Der nächste war zu weit entfernt– und noch immer war die eisige Energie aus den Steinernen Gärten, die alle Magie blockte, zu spüren. Mascha hatte meine missliche Lage erkannt und sprang zu mir zurück.

 

Endlich begriff ich, was sie gemeint hatte, als sie sagte, ich hätte Snowflake gerettet: Wäre Snowflake vor ein paar Tagen noch weiter auf das andere Ufer zugetrieben, hätte ihre Magie versagt. Ihr magischer Rettungsstrahl kam nur knapp bis zur Mitte des Flusses. Und schwimmend, weiter unten am Fluss gab es keine Felsen mehr im Wasser, wäre sie eventuell zu spät gewesen. Na, gut. Ich war also doch ein Lebensretter, der nun allerdings in der Schnauze einer Leopardin baumelte. Himmel, war mir das schon wieder peinlich.

 

Nach einer langen Ruhepause machten wir uns auf den Rückweg. Mascha und ihr Sohn wollten so schnell wie möglich nach Hause und schlugen ein so hohes Tempo an, dass wir schon nach zwei Tagen die Grenze zum Zauberwald erreichten. Erstaunlich, wie schnell ein Babyleopard sein kann, wenn er nur will. Ich trottete mit diesem komischen Halsband in der Schnauze hinterher und wusste nicht so recht, wie mir zumute war. Schließlich musste ich Angelo noch mal gegenübertreten. Außerdem hatte ich die Zeit mit Mascha und Snowflake trotz aller Aufregung genossen, waren sie doch die ersten richtigen Freund*innen, die ich je gehabt hatte.

Das waren sie doch, oder?

An der Stelle drehte sich Mascha zu mir um: „Ja! Natürlich.“

„Hast du mich etwa belauscht?“, fragte ich empört. Magisches Gehör, ihr wisst schon.

Mascha lachte: „Du denkst gerade so laut, dass ich nicht umhinkann. Komm, bringen wir es hinter uns.“

 

‚Wir‘, dachte ich.

Es gab ein ‚Wir‘. Ich schluckte und ging voran.

 

Angelo fanden wir zusammen mit dem damaligen Vorstand des Magischen Rates auf dem Versammlungsplatz. Ich legte ihm das Halsband vor die Pfoten.

„Bitte sehr“, ich schaffte es, meine Stimme eiskalt klingen zu lassen. Er donnerte quasi im selben Moment los.

„Das wertlose Ding kannst du behalten. Du hast betrogen, Sohn, vergiss es, durchgefallen. Versagt. Wie es zu erwarten gewesen war! Du willst mir doch nicht erzählen, dass die da dir nicht geholfen haben!“

 

Er holte Luft, um mich weiter zu beschimpfen, als Mascha neben mich trat.

 

„Nun“, sagte sie, „ich hätte ja schon erwartet, dass sich ein erfahrener Kater wie du mit unseren Regeln auskennt. Regel 372b sollte dir was sagen, oder? Und deine Spione sollten dir zugetragen haben, dass er meinem Sohn das Leben gerettet hat.“

 

Seine Spione?

 

„Im Übrigen verstößt es gegen die Regeln, einen Prüfling zu überwachen. Jaa! Wir haben deine Vogelspione sehr wohl bemerkt.“

 

Vogelspione? Gar nichts hatte ich bemerkt.

 

Ja, gut, es war für diese karge Landschaft erstaunlich viel Federvieh, vor allem diese nervenden Krähen, unterwegs gewesen. Oh, die Krähen … puh!

 

Auch Angelo schnappte nach Luft, während die damalige Vorstandsvorsitzende sich erst mit einem „Gratuliere“ an mich wandte und sich dann an ihn richtete: „Wir sprechen uns noch.“ Sie und der Rest des Vorstandes verließen den Platz, Angelo marschierte vor Wut schnaubend ebenfalls von dannen.

 

„Danke“, sagte ich leise zu Mascha.

„Nicht dafür. Kannst gerne bei uns schlafen.“

Dankbar nickte ich. „Geht schon mal vor.“

 

Ich brauchte noch einen Moment. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich war ein vollwertiges magisches Tier. Und sobald sich die Möglichkeit bot, würde ich den Zauberwald verlassen und einen Auftrag in der Welt der Menschen annehmen. Ich wollte nicht länger in der Reichweite Angelos sein, wollte weg aus seinem Dunstkreis, so wunderbar wie der Zauberwald an sich auch ist, und ich wollte mich endlich nützlich machen. Ein paar Minuten genoss ich das Gefühl der Erleichterung. Schließlich nahm ich das seltsame Halsband und machte mich auf den Weg zu Mascha. Im Gehen fiel mein Blick auf die Büsche am Rande der Lichtung. Dort saß die alte Charly, sich abseits haltend wie immer, und zwinkerte mir zu.

 

 

Jo, das war`s für heute, meine Lieben. Ich hoffe, die Geschichte hat euch gefallen. Wenn ja, hinterlasst mir doch gern einen Kommentar, hier oder auf meinen Social Media Accounts.

 

Wir lesen uns. Bis bald.

 

Es grüßt euch herzlich euer Merlin.

Gesicht einer Leopardin vor Felsen.

Kleiner Nachtrag: 

Mascha hat mir gestattet, ein Foto von sich zu veröffentlichen. Miauuu!

Kommentare: 5
  • #5

    MM (Freitag, 29 März 2024 19:46)

    Merlin, deine Geschichten sind super schön . Wir sind ganz süchtig danach.
    Überhaupt der ganze Block ist für Groß und Klein bestens geeignet.
    Danke für eure wertvolle Arbeit

  • #4

    Inka (Freitag, 24 März 2023 16:42)

    Hey Merlin. Es ist so schön deine Geschichte zu lesen und vor allem so spannend. Unbedingt weitermachen.

  • #3

    Theresa (Mittwoch, 15 März 2023 16:27)

    Zauberhaft. Danke für die schöne Geschichte

  • #2

    Energiepirat (Sonntag, 26 Februar 2023 17:18)

    Hat mich sehr gefesselt und gefreut. Miau

  • #1

    ✨ALina✨ (Sonntag, 26 Februar 2023 10:55)

    Es ist so schön zu wissen, dass man auf dem Lebensweg immer wieder gute Freunde findet,die für einen da sind und man selbst auch für sie da sein darf. ��