Anmerkung 2: No-Gos (nicht nur) für Fachkräfte

Zwei mal drei macht vier
Widdewiddewitt und drei macht neune
Ich mach' mir die Welt
Widdewidde wie sie mir gefällt
Hey, Pippi Langstrumpf
Hollahi-hollaho-holla-hopsasa
Hey Pippi Langstrumpf
Die macht, was ihr gefällt“*

 

(Quelle: https://www.lyrics.com/lyric-lf/1140718/Henning+Wehland/Hej%2C+Pippi+Langstrumpf )

 

 

 

 

Foto eines schwarzen Katers mit gelben Augen, der direkt und streng in die Kamera schaut. Es ist nur sein Kopf und nur ganz wenig vom Körper zu sehen.
Freies Foto von Pixabay.

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

nein, keine Sorge! Dieser Text wird nicht von Andrea Nahles handeln, die einst dieses Lied im Bundestag schmetterte. In der Situation, in der Anna & Co (und meine Wenigkeit) den Song zu hören bekamen, war er allerdings genauso unpassend und schräg, miau. Doch dazu gleich mehr.

 

Erst mal eine Erklärung vorweg: Eine richtige Geschichte, wie ihr es sonst gewohnt seid, wird das hier nicht. Zwei Anteile wünschen sich schon länger, dass ich zu dem Thema No-Gos für Fachkräfte mal etwas schreibe, und ich werde diesem Wunsch jetzt endlich nachkommen:

Es ist unfassbar, was traumatisierte Menschen mit Ämtern, medizinischem Personal, Therapeut*innen, in betreuten/begleiteten Wohnformen – kurz im ganzen angeblichen Hilfesystem – erleben.

 

Allerdings glaube ich, dass nicht nur Fachkräfte von diesem Text profitieren können, sondern alle Menschen, die in irgendeiner Form mit traumatisierten Menschen zu tun haben. Und das, meine zauberhaften Leser*innen, hat eigentlich jede*r.

Ich habe mich entschlossen, euch einige Beispielsituationen zu schildern und das Ganze eher anekdotisch anzugehen und auf eine Auflistung, was Menschen besser unterlassen sollten, zu verzichten.

 

Aus zwei Gründen:

 

1. Was für eine traumatisierte Person im Endeffekt okay ist, kann nur sie selbst entscheiden, auch wenn es jede Menge Sätze, Verhaltensweisen etc. gibt, die für alle bzw. viele nicht gehen oder gar fatal sind.

 

2. Natürlich kann eine solche Liste manchmal hilfreich sein, zum Beispiel für Ärzt*innen, was sie bei Untersuchungen und Terminen tun und nicht tun sollten, um Betroffene nicht zu triggern. Das findet sich allerdings mittlerweile zu genüge im Netz. Wirkliche Sensibilität im Umgang mit traumatisierten Menschen bzw. Menschen mit DIS/pDIS ist mit Listen und reinen Verhaltenstipps meiner bescheidenen Meinung nach nicht zu erreichen. Es geht eher darum, ein Gefühl dafür zu bekommen, was unangemessen, kontraproduktiv, schädigend oder gar retraumatisierend ist, und nicht darum, sich stumpf an eine Liste zu halten, ohne verstanden zu haben. 

 

Ob ich über diese Anekdoten zu etwas mehr Sensibilität beitragen kann, wird sich zeigen, miau.

 

Foto des Gesichtes einer sehr jungen schwarzen Katze. Sie schaut nicht sonderlich erfreut in die Kamera.
Freies Foto von Pixabay.

Also, zurück zu dem Pippi-Langstrumpf-Song: Wie ihr ja wisst, haben Anna & Co nicht nur Hilfe durch mich, sondern auch durch menschliche Begleiter*innen in Form des Ambulanten Begleiteten Wohnens (ABW). (Häufig heißt das Ambulantes Betreutes Wohnen und Bezugsbetreuer*in; der Träger, bei dem Anna ist, hat das Wort Betreuung konsequent durch Begleitung ersetzt. Und das finde ich viel angemessener.)

Wie in allen Trägern der sog. Eingliederungshilfe gibt es dort leider häufiger Personalwechsel und so stand es mal wieder an, eine neue Mitarbeiterin kennenzulernen.

Wir saßen zu viert in Annas Küche. Anna, diese neue Mitarbeiterin und die damalige fachliche Leitung des ABWs. Auf deren Schoß hatte ich es mir gemütlich gemacht. Erstens mochte ich sie sehr gern und zweitens hatte ich von da aus sowohl Anna & Co als auch die Neue gut im Blick.

 

Mein Job in diesen Situationen ist es, nur zu beobachten und nicht einzugreifen. Fällt mir allerdings häufig recht schwer, wie ihr euch vorstellen könnt, aber ich kann mich ja schlecht überall als sprechender, magischer Kater outen.

 

Also, das Gespräch drehte sich gerade darum, was Anna & Co u.U. so brauchen, wenn sie beispielsweise in einer Ärzt*innenpraxis länger warten müssen. Zur Ablenkung seien da Geschichten über (Haus-) Tiere immer ganz gut, erklärte die fachliche Leitung und wollte gerade ausführen, warum Wartesituationen für Anna & Co so schwierig sind.

 

Tja, da passierte es: Die Neue wartete die weiteren Worte gar nicht ab, sondern teilte uns allen übertrieben fröhlich mit, dass sie es mit Tieren nicht so hätte (ah, ja danke schön, miau), aber Kinderfilme liebe – und begann zu singen. Sie begann einfach zu singen. In unserer Küche: „Hey Pippi Langstrumpf …“

 

Ich weiß nicht, wessen Kinnlade am tiefsten herunterfiel: Annas, die der fachlichen Leitung oder meine. Die potenziell neue Bezugsbegleiterin gab das komplette Lied zum Besten, bevor die fachliche Leitung es schaffte, sie zu unterbrechen und das Gespräch wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Und die war wahrlich nicht auf den Mund gefallen.

 

Als die Neue dann bei der Verabschiedung auch noch Teile der Fensterbank-Deko ungefragt in die Hand nahm und kommentierte, fiel es mir enorm schwer, ihr nicht mit der Pfote kurz, aber kräftig auf die Finger zu hauen. Ungefragt Deko-Gegenstände antatschen, darf nur ich hier. Also streng genommen auch nicht. Aber egal. Ich verliere den Faden. Für mich war sie spätestens da durchgefallen, für Anna & Co ebenso, das spürte ich deutlich. Doch mangels Alternativen mussten wir es erst einmal ein paar Wochen mit ihr probieren, bevor Anna sie dann endlich vor die Tür setzte.

 

Das, meine zauberhaften Leser*innen, war zwar eine der absurdesten Situationen, die Anna & Co mit Fachkräften erlebt haben, aber bei weitem nicht die Schlimmste, auch wenn das Verhalten dieser Dame absolut grenzüberschreitend war – ein No-Go in der Arbeit mit traumatisierten Klient:innen im Besonderen und im Umgang miteinander im Allgemeinen.

 

Bei dem vorherigen Träger für die ambulante Unterstützung haben Anna & Co leider einige unprofessionell agierende „Fach“kräfte erlebt. So verglich dort eine Mitarbeiterin die Existenz von Anteilen mit dem, was Menschen mit einer Psychose erleben. Ähm, nein. Das sind zwei gänzlich unterschiedliche Sachen und Diagnosen und somit in keiner Weise vergleichbar. Die Innenwelt einer Person mit DIS/pDIS ist kein psychotisches Erleben.

 

An anderer Stelle kommentierte sie die Arbeit mit Anteilen mit: „Naja, es wird ja in vielen Therapien mit dem Inneren Kind gearbeitet.“ Das „Innere Kind“, meine zauberhaften Leser*innen, ist ein therapeutisches Konzept, ein Symbol für Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen in der Kindheit – und nicht das gleiche wie ein Persönlichkeitsanteil. Zur Unterscheidung verlinke ich noch den folgenden Artikel: https://vielfalt-info.de/index.php/viele-sein/definition-dis .

 

Zwischen einer anderen Mitarbeiterin dieses Trägers und Anna gab es gegen Ende der Zeit dort einen massiven Konflikt. Die Mitarbeiterin agierte dabei sehr aggressiv und ignorierte Annas Bitte um Stopp mehrmals und äußerte dann noch, dass Anna das jetzt auszuhalten habe.

Nun, das war der Moment, in dem ich die Dame sehr vehement anfauchte und sie so dazu brachte, die Wohnung zu verlassen. Der Träger warf Anna daraufhin raus; das Beste, was ihr und den anderen passieren konnte, auch wenn eine sehr turbulente Zeit folgte. Miau.

 

Zum Thema Aushalten: never ever. Menschen mit Traumata haben in ihrem Leben schier Unfassbares aushalten müssen und müssen es zum großen Teil immer noch. In einem vermeintlich geschützten Raum muss nun wirklich nichts mehr ausgehalten werden.

Wenn ich an diese Situation zurückdenke, werde ich immer noch wütend.

 

Okay, miau, einmal alle durchatmen. Und dann weiter, denn leider ziehen sich solche Situationen durch alle Bereiche des Hilfesystems, wie ich eingangs schon schrieb.

 

Ebenfalls unvergessen ist hier auch die ehemalige leitende Psychologin des Gesundheitsamtes, die – nachdem Anna versucht hatte, ihr zu erklären, dass Kontakte mit Ämtern triggern – eben jene Erklärung mit dem Satz „Ach, ich gehe auch nicht gerne zu Ämtern“ kommentierte und damit deutlich zeigte, dass sie mal so gar nix verstanden hatte.

 

Zu Ämterterminen darf ich ja leider nicht mitgehen. Ich hätte, glaube ich, meinen Ruf als etwas tollpatschiger Kater schamlos ausgenutzt und so ganz aus Versehen ihre Kaffeetasse so umgeworfen, dass der Inhalt derselbigen leider über die Tastatur ihres Computers gelaufen wäre. Mau.

 

Natürlich geht niemensch gerne zu Ämtern, aber das ist weit entfernt davon, was es in traumatisierten Menschen auslöst. Ich glaube, ich schrieb an anderer Stelle schon: Nehmt das, was ihr kennt, und potenziert es mit 100, dann haut es ungefähr hin.

Solche Bagatellisierungen/Verallgemeinerungen sind nicht hilfreich und negieren, wenn auch wahrscheinlich zumeist unbeabsichtigt, die Erfahrungen Gewaltbetroffener.

 

Ich könnte ewig weiter schreiben, so viel Unsensibles, Unpassendes, Triggerndes haben Anna & Co in all den Jahren in diesem Hilfesystem, aber auch bei Ärzt*innen und in Kliniken erlebt.

 

Sei es der Orthopäde, der fragte, da leider auch die Diagnose PTBS auf der Überweisung stand, was denn bitte das Trauma gewesen sei. So eben mal anstelle der Begrüßung. Oder die Zahnärztin, die wegen der Kieferschmerzen Entspannungsübungen vorschlug, die für Anna & Co nicht gehen, und diese Information mit: „Naja, man muss schon auch gesund werden wollen“ kommentierte.

 

Wenn ich alle Erlebnisse dieser Art jetzt hier aufschreiben würde, wäre ich in drei Jahren noch nicht fertig. Das will ja auch keins.

 

Aber ich denke, es ist jetzt schon deutlich geworden, worauf ich hinauswill, miau:

 

Was in all diesen Situationen, all diesen Menschen fehlte, war die oben angesprochene Sensibilität gegenüber traumatisierten Menschen. Ich benutze hier bewusst nicht den Begriff Traumasensibilität, das ist ein Begriff aus der Traumapädagogik und wir ihr wisst, verzichte ich in aller Regel auf theoretische Ausführungen und Definitionen. Das können andere besser.

Ich schreibe hier immer nur das, was ein magischer Kater, der mit einer Frau mit DIS zusammenlebt, erlebt, denkt und für wichtig empfindet.

 

Von daher gibt es jetzt doch noch eine kleine Liste mit Punkten, die ich vor allem zusammen mit Ricky, Annas 12-jährigem Innenteenie, erarbeitet habe.

 

Wir haben zusammengetragen, was für uns beide das Wichtigste ist, im Umgang mit traumatisierten Menschen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit:

 

Grafik. Es sind 12 Kästchen zu sehen, immer drei nebeneinander, vier untereinander in verschiedenen Farben. In jedem Kästchen steht das Wort "Yes" in einer anderen Farbe.
Freies Bild.
  • Nehmt ernst, was euch traumatisierte Menschen erzählen. Tut es nicht ab, bagatellisiert es nicht, negiert es nicht. Hört zu. Kurz: Glaubt ihnen.
  • Informiert euch über Traumata und komplexe Traumafolgestörungen, besonders über früh beginnende und langanhaltende und über DIS/pDIS. Fachwissen ist nicht alles, aber so ganz ohne geht es halt auch nicht. Besucht entsprechende Fortbildungen. Nutzt Supervision, allerdings sollte die durchführende Person ebenfalls Ahnung vom Thema haben.
  • Nehmt die Bedürfnisse traumatisierter Menschen ernst, tut sie nicht als überzogen oder übertrieben oder seltsam oder Sonderwünsche ab. Die Klient*innen haben ihre Gründe, wenn sie euch bspw. bitten, eine bestimmte Handbewegung nicht zu machen oder bestimmte Worte nicht zu benutzen oder umfangreiche Vorbereitungen für wichtige Termine benötigen oder oder oder. Ihr könnt davon ausgehen, dass es existentiell ist, worum di*er Klient*in bittet. Ja, da kann es dann auch mal nötig sein, ein Bild in einem Beratungsraum, das triggert, vorübergehend abzuhängen oder zu verdecken, damit Klient*innen nicht die ganz Zeit mit dem Trigger beschäftigt sind und sich auf das Eigentliche konzentrieren können. Es braucht individuelle Lösungen, kein Standardvorgehen.
  • Macht ihnen Mut, sich zu äußern, denn vielen fällt es nach wie vor schwer zu formulieren, was sie bräuchten, oder sie können es gar nicht.
  • Fragt, wie ihr unterstützen könnt oder wenn ihr etwas nicht versteht. Aber fragt vorher, ob Fragen okay sind.
  • Denkt Trauma immer mit, auch wenn euch nicht bekannt ist, ob die Person, die vor euch sitzt, eine Traumafolgestörung hat.
  • Schafft so viel Sicherheit wie möglich. Dazu gehören Transparenz, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit genauso wie, dass ihr gut auf euch und eure Grenzen achtet.
  • Seid so authentisch wie irgend möglich.
  • Seht, was die Person jeden Tag leisten muss, um durchs Leben zu kommen; seht, wo sie Hilfe braucht, aber auch was sie kann.
  • Bezeichnet traumatisierte Menschen nicht als Held*innen, wenn sie um jeden Preis funktionieren, wenn sie sich an suboptimale oder gar eigentlich nicht tragbare Umstände anpassen o.Ä. Das haben sie zwangsweise sehr früh gelernt, um zu überleben. Traumata machen Menschen nicht stärker oder kreativer oder sonst was. Das ist ein echt seltsamer Mythos und dient meiner Meinung nach vor allem dazu, all das Furchtbare nicht wirklich an sich heranzulassen. Tatsächlich ist es eher umgekehrt: Um all die Gewalt zu überleben, muss eins schon sehr früh sehr stark gewesen sein.
  • Seht genau hin! Ich kenne nämlich eine Menge hochfunktionaler Systeme. Macht da bitte nicht den Standard-Fehler: Nur weil ein System hochfunktional ist, heißt es nicht, dass es besser mit den Traumata umgehen kann oder weniger darunter leidet, ihr seht es nur nicht. Oder wie eine Freundin von Anna neulich sagte: "Das heißt nur, dass die Umgebung besser mit den Traumata der Person klarkommt."

 

Diese Liste darf in den Kommentaren oder über Social Media gerne noch ergänzt werden, miau.

 

Tatsächlich, meine zauberhaften Leser*innen, war es das für heute schon. Ich hoffe, ihr konntet etwas mitnehmen. Ich freue mich wie immer über Kommentare hier auf dem Blog oder meinen Social Media Accounts, sofern sie respektvoll sind. Gern dürft ihr den Artikel oder den Blog weiterempfehlen. 

 

Wir lesen uns, bis bald.

 

 

Es grüßt euch herzlich euer Merlin. 

Kommentare: 4
  • #4

    firefly (Mittwoch, 28 Februar 2024 13:01)

    Das kommt gerade recht - ich werde diesen Beitrag viel teilen. danke

  • #3

    Erna (Dienstag, 20 Februar 2024 11:35)

    Lieber Merlin, danke, dass Du so gut und ausführlich aufklärst! Das sind alles ganz wichtige Punkte, die schnell mal hinten runter fallen, wenn man sich nicht damit auskennt.
    Ich freue mich schon, weitere spannende Geschichten und noch mehr Aufklärung von Dir zu lesen! Liebe Grüße an Anna & Co!
    Eine dickes Wuff
    Eure Erna

  • #2

    @energiepirat (Sonntag, 18 Februar 2024 19:33)

    Chapeau me in lieber Merlin, dafür dass Du sehr präzise und in verständlichen Worten weitgehend im Unbewussten vor sich hin wirkende Zuammenhänge so gut schilderst. Das sind Bereich, in die kaum jemand beswußt vordringt - ausser Betroffenen. Aber jeder sollte den Zugang dazu gezeigt bekommen und ein wneig eintauchen in diese unsichtbare realität in der wir alle leben. Ausnahmslos alle. Wieder einmal sehr interessant, Danke sehr.

  • #1

    Ginny (Sonntag, 18 Februar 2024 18:23)

    Toller und empfehlenswerter Artikel