Angst – oder warum Elfen einfach klasse sind

Bild. Eine blau-schwarze Katze mit großen gelben Augen schaut neugierig hinter einer Art pinken Vorhang hervor.
Freies Foto von Pixabay. Bearbeitet von privat.

CN: Textpassage zum Thema Angst direkt am Anfang der Geschichte, geschrieben von einem Anteil.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Das Schlimmste war und ist die Angst. Die Todesangst. Die Angst zu leben, zu sein, schlicht zu existieren. Die Angst vor Menschen und vor Einsamkeit. Vor Veränderungen, Verlust und Abschieden. Vor Ämtern und Ärzt*innen, die Angst vor (noch mehr) Armut. Vor Obdachlosigkeit. Einfach Angst. Jede Sekunde. Jede Minute. Jede Stunde. Jeden Tag und jede Nacht. Immer.

Todesangst.

Einschlafen mit der Angst. Aufwachen mit der Angst. Dazwischen ein paar wenige Stunden unruhig-quälender Schlaf, denn auch im Schlaf ist sie da. Sie immer da. Die Angst. Mal stärker, mal schwächer, aber immer da.

Nicht atmen können, nicht hören, nicht reden, nicht sehen können. Die Umgebung rauscht und flimmert, verschwimmt und löst sich auf mit und in der Angst.

Todesangst.

Hin und wieder kippt sie, in wütende Verzweiflung. Verzweiflung darüber, dass die Welt ist, wie sie ist. Dass es war und ist, wie es war und ist. Weinkrämpfe, bis zur totalen Erschöpfung. Irgendwann leer. Leer bis auf die Angst. Denn die bleibt. Hartnäckig.

Die (Todes-) Angst.“

 

 (SARAH)

 

 

 

 

 

Bild. Vor einem dunkelblauen Nachthimmel mit Vollmond und Sternen ist eine Schaukel zu sehen. Diese hängt an einem Ast von einem Baum, der rechts im Bild steht. Schwarz. Auf der Schaukel sitzen ein Kind mit kleinen Zöpfen und eine Katze.
Freies Foto von Pixabay. Pia und ich beim Schaukeln.

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

starker Tobak zum Einstieg, ich weiß. Diese Zeilen hat Sarah vor einigen Jahren geschrieben und ich habe ihre Erlaubnis, sie auf dem Blog zu veröffentlichen. Angst ist hier nach wie vor ein zentrales Thema. Derzeit ist der Pegel wieder besonders hoch, aufgrund äußerer Umstände. Es stehen im Hilfenetz viele Veränderungen an, die allen, aber insbesondere Sarah mächtig Angst machen – und so habe ich mit Anna vor ein paar Tagen beschlossen, mal wieder Pia zu uns einzuladen.

 

Pia ist eine Elfe, die ich seit Ende der 1990er Jahre kenne und von der ich euch schon mal kurz erzählt habe (=> 10.1 Feen). Sie ist meine „Geheimwaffe“, wenn hier nichts mehr hilft und Sarah (und damit auch die anderen im System) von Angst und Panik geflutet werden.

Doch dazu später mehr. Am besten erzähle ich euch erst mal, wie ich Pia überhaupt kennengelernt habe. Das passt ganz gut, bin ich doch neulich gefragt worden, ob ich auch anderen Menschen helfe oder geholfen habe.

 

Also, Pia begegnete ich während meines letzten Auftrages, bevor ich diesen unsäglichen Unfall hatte und Anna und Co kennenlernte (=> 2. Wie alles anfing).  

 

Der Mensch, den ich unterstützen wollte und sollte, lebte in einem kleinen Dorf in Brandenburg. Nennen wir ihn für die Geschichte einfach Stephan. Stephan war ein älterer Herr, Ende 60/Anfang 70, der hintereinander seinen Lebenspartner und seine alte Hauskatze verloren und sich aus Trauer vollkommen in sich zurückgezogen hatte.

 

Die Amsel, durch die der Rat der Magischen Tiere (=> Wissenswertes) von ihm erfuhr, war in großer Sorge um ihn. Der einst lebenslustige und kontaktfreudige Mann, ein pensionierter Lehrer, sprach mit keiner Menschenseele mehr.; ließ sich Kontakt nicht vermeiden, so pflaumte er sein Gegenüber mürrisch an. Das Haus verließ er nur, wenn es absolut nötig war, und seine Abende verbrachte er damit, Stunde um Stunde alte Fotos anzusehen. All seine Hobbys und Interessen lagen brach; sein Garten, einst das Prachtstück im Dorf, verkümmerte zusehends.

 

Ich nahm den Auftrag an, da ich schon immer einen guten Draht zu trauernden Menschen gehabt hatte, und stellte mir das Ganze aufgrund meiner Erfahrung nicht allzu schwierig vor. Nun ja.

 

So landete ich also an einem schönen Frühsommertag vor Stephans Haus auf der Terrasse. Ein typisches kleines Häuschen, wie es sie zuhauf in den Dörfern in Brandenburg gibt.

 

Wie von der Amsel beschrieben, waren vor allen Fenstern und der Terrassentür die Vorhänge zugezogen. Ich miaute daher laut und kräftig vor eben jener stehend – und als sich nichts tat, kratzte ich energisch an ihr. Nach einigen Minuten wurde der Vorhang aufgerissen, Stephan starrte mich einige Sekunden durch die Scheibe an, öffnete die Tür – und fing an, zu fuchteln und „Hau ab“ zu schreien, um mich zu vertreiben, statt mich hineinzulassen. Mich schnell durch den Spalt zu quetschen, wäre extrem unhöflich gewesen, war ich doch eindeutig nicht wirklich willkommen. So zog ich mich in den verwilderten Garten zurück – und Stephan schloss erst die Terrassentür energisch und zog dann den Vorhang zu.

 

Eine solch heftige ablehnende Reaktion war mir selten widerfahren. Aber ich kann sehr hartnäckig sein und so wiederholten wir das Spiel über Wochen dreimal am Tag. Ich miaute und kratzte, Stephan vertrieb mich fuchtelnd.

 

Natürlich passte ich ihn mehrmals bei den seltenen Gelegenheiten ab, in denen er das Haus verließ. Doch er ignorierte mich und mein Miauen und Um-die-Beine-Streifen vehement, selbst als ich vor lauter Verzweiflung Menschensprache benutzte. (Das mache ich sonst nicht so schnell, sondern erst wenn sich mensch ein bisschen an mich gewöhnt hat. Als ich noch jung und unerfahren war, habe ich ein paar Ohnmachtsanfälle ausgelöst, wenn ich mich als erstes fröhlich in Menschensprache vorstellte. Kater ist ja lernfähig.)

 

Die Möglichkeit, kurz zurück in den Zauberwald zu springen und von dort aus direkt IN Stephans Haus, schied aus. Erstens wäre das sehr grenzüberschreitend gewesen und zweitens war ich mir nicht sicher, ob Stephan dann nicht womöglich schwerere Geschütze wie einen Besen auffahren würde, um mich aus dem Haus zu werfen. Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. So war ich etwas ratlos und kurz davor, aufzugeben, als mir der Zufall in Form eines schweren Sommergewitters mit viel Regen zur Hilfe kam.

 

Ich campierte mittlerweile in seinem Garten und war von dem Regen überrascht worden. Tropfnass wie ich war, beschloss ich, einen letzten Versuch zu unternehmen, an der Terrassentür zu kratzen. Dieses Mal dauerte es sehr lange, bis Stephan auf mein Mauzen reagierte. Und er starrte mich deutlich länger an, bevor er die Terrassentür öffnete – oh, Wunder –, ohne zu fuchteln und zu schreien. Stattdessen teilte er mir in unwirschem Tonfall mit:

„In Gottes Namen, komm rein. Du kannst bleiben, bis das Unwetter vorbei ist. Aber keine Sekunde länger.“

 

Geschafft! Schnell schlüpfte ich durch die Tür, bevor er es sich anders überlegte. Stephan schloss sie hinter mir und ging über den Flur in die Küche, wie ich feststellte, als ich ihm folgte. Dort kippte er etwas aus einer Pfanne auf einen kleinen Teller, den er mir hinstellte.

„Hab zu viel gemacht. Kannst du aufessen.“

Ich inspizierte den Teller. Rührei. Ausgerechnet. Mag ich nämlich nicht besonders, um nicht zu sagen, so gar nicht. Aber der Speck darin war verlockend und ich wollte diesen ersten tatsächlichen Kontakt nicht dadurch kaputt machen, dass ich gleich mal übers Essen mäkelte. Also bedankte ich mich artig, versehentlich in Menschensprache. Verflixter Feenstaub. Doch Stephan starrte mich an wie immer, verzog keine Miene, sagte „Guten Appetit“ und verließ die Küche.

 

Um es an Stelle abzukürzen, ich ging natürlich nicht, nachdem das Gewitter vorüber war, und Stephan machte keine Anstalten, mich rauszuwerfen. Er stellte mir stillschweigend das Katzenklo seiner alten Katze hin, ließ das Badfenster im Erdgeschoss immer einen Spalt offen, sodass ich rein- und raus konnte, wie ich wollte, und versorgte mich morgens und abends mit Rührei. Über Wochen. Seufz. Er selbst aß ebenfalls fast nichts anderes, mal eine Scheibe Brot, mal einen Apfel, aber hauptsächlich Rührei. Auch das zeigte, dass er dringend Hilfe brauchte, war er doch einst ein leidenschaftlicher Hobby-Koch gewesen.

(Was war ich übrigens froh, als ich bei Anna einzog und feststellte, dass sie nie Eier im Haus hat, weil sie die nicht verträgt!)

 

Was ihn zu diesem Sinneswandel veranlasste, war mir an jenem Abend nicht klar. Ihm auch nicht so richtig, wie er mir später erzählte, hatte er sich doch geschworen nichts und niemensch und auch kein Tier jemals wieder an sich heranzulassen. Aber ich hätte mit meinem pitschnassen Fell so jämmerlich ausgesehen, dass er nicht anders gekonnt hätte.

Also, ich wurde im Haus geduldet und versorgt. Aber ansonsten kam ich erst einmal keinen Schritt weiter. Aus Wohn- und Schlafzimmer blieb ich ausgesperrt. Zog ich die Vorhänge auf, zog er sie wieder zu. Jedes Mal. Als ich kurzerhand mit etwas Magie den Garten in Ordnung brachte, würdigte er das keines Blickes. Sprach ich ihn an, antwortete er einsilbig oder gar nicht und ließ mich dann stehen. Dass ich, wenn er mit seinem Fahrrad einkaufen fuhr, in den Fahrradkorb sprang (oder besser: ungeschickt reinkletterte), nahm er emotionslos zur Kenntnis. Seine Abende verbrachte er weiter allein mit seinen Fotoalben. Da ich zumindest die Bibliothek betreten durfte, habe ich in jenen Wochen viel gelesen. Sein Partner Christoph, mit dem er fast 40 Jahre zusammen gewesen und der unerwartet an einem Herzinfarkt verstorben war, war Psychologe gewesen. Einen Teil meines Wissens über Trauma und DIS habe ich mir in dieser Zeit angelesen, nicht wissend, dass ich es mir schon bei meinem nächsten Auftrag sehr nützlich sein würde.

 

Ich richtete mich also darauf ein, dass das ein sehr langer Aufenthalt bei Stephan werden würde, dass es u.U. Jahre dauern konnte, bis ich seinen Panzer aus Abwehr und die selbst gewählte Einsamkeit würde durchdringen können.

So begann ich eines schönen Tages, die weitere Umgebung zu erkunden. Wenn ich hier auf diesem Dörfchen schon festsaß, konnte ich ja wenigstens die Natur genießen.

 

Und auf einem meiner Streifzüge in Dämmerung, passierte es. Aus einiger Entfernung hörte ich Rufe, Jubel und Gefluche:

„Spiel schon ab“ – „Hierher!“ – „Ja, Treffer! – „Zum grünen Troll, pass doch auf!!!“

 

Zum grünen Troll? Zunächst hatte ich gedacht, ein paar der Jugendlichen aus dem Dorf wären noch auf dem Bolzplatz zugange. Aber der Fluch „zum grünen Troll“ ist eigentlich ausschließlich in der magischen Welt verbreitet. So schlich ich neugierig zum Bolzplatz. Und traute meinen Augen nicht. Mitten im brandenburgischen Niemandsland trainierte ein Team aus etwa 20 Elfen, alle in lilafarbenen Trikots und mit Feuer und Flamme bei der Sache. Tatsächlich war es mir bis dato nicht gelungen, mal einem Elfen-Fußball-Turnier oder gar einem Training beizuwohnen. Hatte immer zu viel zu tun. Also machte ich es mir unter einem Strauch am Rande des Spielfeldes gemütlich und sah mir das Spektakel an. Eindeutig ein Trainingsspiel, aber es ging ganz schön zur Sache.

 

Ich glaube, hier muss ich noch zwei Dinge erklären, bevor ich weitererzähle, die ich euch in 10.1 Feen noch vorenthalten habe. Zum einen sind Elfen für nicht-magische Wesen unsichtbar und unhörbar, können sich aber mit Hilfe ihrer sehr speziellen Magie sichtbar machen. Sie sind die einzigen magischen Wesen, die diese beneidenswerte Fähigkeit besitzen. So können sie einfach in der menschlichen Welt trainieren – und niemensch bekommt etwas mit. Wie praktisch wäre es für meine diversen Streifzüge durch Ämter (7 bis 9, siehe Inhaltsverzeichnis), mich einfach mal kurz unsichtbar machen zu können.

 

Zum anderen gibt es bei den weltweiten Elfen-Fußball-Turnieren eine Besonderheit. Anders als bei den Turnieren eurer menschlichen Fußballspieler*innen wird das mit dem Gewinnen und Verlieren nicht so ganz ernst genommen. Zwar versuchen beiden Teams schon, so viele Tore wie möglich zu schießen, doch am Ende muss das Team, das gewonnen hat, eine riesige Party für das andere Team ausrichten. Lustige Tradition. Doch bei Trainingsspielen gibt es am Ende keine Party, wie ich nun bedauernd feststellte, sondern eine kurze Besprechung mit der für das Training verantwortlichen Elfe – und dann zerstreuten sie sich in alle Winde.

 

Bis auf eine mit strubbeligen braunen Haaren, die noch ein paar Balltricks ausprobierte. Ich bewunderte, weiter in meinem Versteck hockend, ihre Geschicklichkeit, bis sie einen Ball versemmelte und ihn direkt in meinen Strauch und gegen meine Seite schoss.

„AUAAA!“

Verflixter Feenstaub, hatte dieses kleine Wesen Power in den Schuss gelegt. Die Elfe blickte erschrocken auf, als sie meinen Schmerzensschrei vernahm, und flitzte zu mir.

„Oh, tut mir sehr leid! Ich wusste nicht, dass ich einen Zuschauer habe. Bist du okay?“

„Ja, geht schon!“, schnaufte ich. Der Schmerz ließ bereits nach und ich war mir sicher, dass ich lediglich ein paar blaue Flecken unter dem Fell davontragen würde.

„Gut“, sie schaute noch ein bisschen besorgt, fuhr aber fort: „Ich bin Pia. Ich hoffe, du hattest Spaß beim Zuschauen?!“ Sie hockte sich neben mich, ordnete ihre Haare, indem sie sich mit Hilfe zweier Haargummis zwei kleine Zöpfchen band, und sah mich neugierig an.

 

Wir unterhielten uns an jenem Abend noch ewig und ich begann, dem Fußballtraining regelmäßig zuzuschauen. Ganz offiziell, nicht heimlich in einem Strauch hockend. Danach saßen Pia und ich immer noch ein Stündchen zusammen und quatschten. Und an einem Abend im November erzählte ich ihr von Stephan, mit dem ich weiterhin keine Fortschritte erzielte. So quirlig, wie Pia auch ist, sie kann unglaublich gut zuhören. Als ich fertig war, schwieg sie einen Moment, bevor sie mich gewohnt fröhlich angrinste:

„Ich glaube, ich habe eine Idee. Hast du noch ein bisschen Zeit?“ Als ich nickte, fuhr sie fort: „Dann komm mit.“

 

Wir schlugen den Weg ins Nachbardorf ein, über einen zum Glück menschenleeren Feldweg. Ich war ganz froh, dass wir niemensch begegneten, wäre ich sonst wohl für einen Kater gehalten geworden, der Selbstgespräche führt, da ja nur ich sichtbar war und Pia und ich uns lebhaft unterhielten. Meine Frage, wohin wir denn unterwegs wären, konterte sie mehrmals mit: „Lass dich überraschen.“

 

Schließlich standen wir auf einer recht verlassen wirkenden Dorfstraße vor einer Art Tante-Emma-Laden mit einem angeschlossenen Café. Also eigentlich. Vor allem war das zum damaligen Zeitpunkt eine Baustelle. Durch die Scheiben sah ich eine hochgewachsene schlanke Frau mit kurzen, schwarzen Haaren, durch die sich die ersten grauen Strähnchen zogen, die in Malerklamotten und rauchend auf einem Stuhl saß. Ich schätzte sie auf Mitte 50 (und lag damit richtig, wie ich später erfuhr).

„Ah, cool, Gudrun ist tatsächlich noch da“, freute sich Pia, machte eine Armbewegung und war für einige Sekunden in rosafarbenen Nebel eingehüllt. Auf meinen fragend-faszinierten Blick erklärte sie: „Jetzt bin ich auch für Menschen sichtbar.“ (Große Katze im Himmel, das würde ich echt gern können.)

 

Während ich noch kurz davon träumte, was mit solcher Magie alles möglich wäre, öffnete Pia bereits die Tür und begrüßte Gudrun herzlich. Als ich Pia schließlich folgte, hockte sich Gudrun begeistert vor mich und streichelte mir über den Rücken:

„Hey, du bist ja ein Hübscher. Aber so dünn! Warte mal, ich habe hinten im Lager bestimmt noch eine Dose Thunfisch für dich.“ Sie verschwand, bevor ich mich vorstellen konnte. Pia kicherte immer noch, als Gudrun bereits zurückkehrte, in der Hand einen Teller mit Thunfisch. Thunfisch, ihr Zauberhaften, Thunfisch. Nach all den Wochen mit Rührei. Ich liebte diese Frau jetzt schon und machte mich nach einem kurzen Danke sofort drüber her.

 

Währenddessen klärte Pia Gudrun darüber auf, dass es sich bei mir um einen magischen Kater handelt, was diese sehr gelassen aufnahm. Nun ja, wer mit Elfen verkehrt …

Als ich die Hälfte des Thunfisches verspeist hatte, fragte ich zwischen zwei Happen:

„Erzählt ihr mir, woher ihr euch kennt und warum ich hier bin?“

Während sich Gudrun eine weitere Zigarette anzündete, begann Pia zu erzählen:

 

„Pass auf! Gudrun hat vor einigen Jahren den Laden mit dem kleinen Café nebenan von ihrer Mutter geerbt. Beides lief damals schon schlecht. Aber Gudrun und ihre Freundin wollten versuchen, es wieder zum Laufen zu bringen und zogen hierher. Oben im Haus ist ne kleine Wohnung. Und dahinter – das musst du dir mal angucken – liegt ein riesiger Garten. Also, kurz nachdem sie hierhergezogen waren, begann ich mit meinem Team auf dem Bolzplatz im Nachbardorf zu trainieren. Und ich habe es mir angewöhnt, auf dem Nachhauseweg noch hier im Laden etwas zu trinken zu kaufen.“

Ich sah fragend von meinem Thunfisch auf.

Pia grinste und fuhr fort:

„Na, ich bin unsichtbar durch die Tür geschlüpft, wenn wer anders reinging, habe mir ein Getränk aus dem Regal geschnappt, das Geld auf die Theke geworfen und bin wieder raus. Alles unbemerkt.“ Sie kicherte fröhlich.

„Cool“, nach diesem Kommentar machte ich mich über die letzten Thunfischkrümel her.

„Vor ein paar Monaten jedoch“, erzählte Pia weiter, „traf ich Gudrun eines Abends weinend an einem der Tische sitzend an.“

Gudrun blies den Rauch ihrer nächsten Zigarette aus und nickte zustimmend: 

„Oh, ja, das war ein furchtbarer Abend. Und der Schreck, als du auf einmal vor mir standest. Wie aus dem Nichts!“

„Was war passiert?“, fragte ich, mir das Schnäuzchen sauber leckend.

„Meine Lebensgefährtin hatte mich an jenem Tag verlassen. Ihre letzten Worte, bevor sie ihre Koffer in das Auto wuchtete und von dannen rauschte, waren: ‚Ich weiß nicht, was mir mehr auf die Nerven geht – der sch… Laden, dieses elende Kaff oder du!‘“

Holla, das war heftig.

„Jedenfalls“, Pia nahm den Faden wieder auf, „haben Gudrun und ich noch in dieser Nacht angefangen, Pläne zu schmieden.“

„Was für Pläne?“, fragte ich, langsam ungeduldig werdend.

„Das hier“; Pia machte eine ausladende Armbewegung, „– tadaaaa – wird ein Treffpunkt für queere Menschen aus der Umgebung. Insbesondere für ältere wie deinen Stephan. Mit Cafébetrieb, Kultur- und Tanzveranstaltungen, Spieleabenden und so weiter. Wir haben sogar Fördergelder dafür akquirieren können. Aber wie du siehst, ist noch eine ganze Menge zu tun. Wir planen die Eröffnung für das Frühjahr!“

 

Wow, was für eine tolle Idee. Und in der Tat garantiert etwas für Stephan, falls ich es schaffte, den Kerl hierher zu bewegen. Doch bevor ich darüber genauer nachdenken konnte, streckte mir Pia einen Flyer entgegen.

„Hier. Die sind gestern gekommen. Da steht alles drauf, was wir planen. Sollen dazu dienen, weitere Mitstreiter*innen und Spender*innen zu gewinnen.“

 

Ich sah mir das Faltblatt genauer an; das nächste Treffen für alle Interessierten war bereits in drei Tagen. Nicht viel Zeit, um Stephan zu überzeugen. Doch wieso schimmerte und funkelte das so, als blicke eins in einen rosa Sternenhimmel? Ich stellte die Frage laut.

Pia grinste verschmitzt: „Ich habe ein wenig Elfen-Magie angewendet, um die Leute auf jeden Fall neugierig zu machen.“

Miau, gute Idee!

 

So trug ich den Flyer also nach Hause zu Stephan und schob ihm ihn bei einem späten Abendbrot (Rührei, ich verzichtete dankend, hatte ich doch den Magen noch voller Thunfisch) hin. Nachdem er ihn tatsächlich sehr genau und eindeutig angetan von der Idee studiert hatte, erzählte ich ihm von Pia und Gudrun – und er stimmte tatsächlich zu, zu dem Treffen zu gehen, sofern ich mitkam. Und so schlief ich in dieser Nacht zufrieden ein, dachte ich doch, endlich eine Lösung für Stephans Probleme gefunden zu haben.

 

Doch die böse Überraschung erwartete mich am nächsten Morgen.

Wie immer betrat ich die Küche nach Stephan. Und wie immer saß er schon am Küchentisch und aß seine morgendlichen Rühreier. Doch anders als sonst stand da kein Teller für mich auf dem Boden. Und – verflixter Feenstaub – aus dem halboffenen Mülleimer ragte ein Stück von Pias Flyer heraus.

Rasch kletterte ich auf den zweiten Küchenstuhl und sah Stephan fragend an: „Hey, was ist los?“

Zunächst würdigte er mich keines Blickes. Als ich erneut nachhakte, fuhr er mich wütend an:

„Ich habe weder vor, mir dieses unsinnige Projekt anzuschauen, noch will ich dich weiter hier haben. Mach, dass du wegkommst, du verdammter Zauberkater. Verstanden?“

 

Was zum grünen Troll war denn da über Nacht passiert? Völlig fassungslos starrte ich Stephan an.

„Hau endlich ab“, schrie er mich erneut an, als ich mich nicht vom Fleck bewegte.

Mit einem energischen „NEIN!“ hopste ich vom Stuhl auf den Tisch und positionierte mich vor Stephan. „Nein, ich werde nicht weggehen, bis du wieder am Leben teilnimmst und endlich wieder etwas anderes isst als dieses furchtbare Rührei. Notfalls bleibe ich für immer hier. Ich hoffe, das hast du verstanden. Ich lasse meine Freund*innen nicht im Stich.“

 

Große Katze im Himmel war ich sauer und so fauchte ich noch bisschen weiter – bis Stephan urplötzlich (oder sollte ich sagen: endlich?) anfing zu weinen. Wie ein Sturzbach flossen die seit Monaten ungeweinten Tränen aus ihm heraus. Zunächst tat ich nichts weiter, als etwas näher an ihn heranzurutschen und leise zu schnurren. Schließlich, als die Tränen langsam abebbten, begannen wir zu reden: über Christoph, wie er ihn (und die alte Hauskatze) vermisste, jede Sekunde am Tag. Über die Trauer und den Schmerz über Christophs Tod, über seine Angst, wie das Leben ohne ihn weitergehen sollte, seine Angst, sich auf etwas Neues einzulassen. Wie sehr er seit Christophs Tod alles, wirklich alles als sinnlos erlebte. Und auch darüber, dass er die ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, wie gern er bei Gudruns Projekt mitmachen wollte – sich das aber ohne Christoph nicht vorstellen konnte und wollte.

 

Es bedurfte noch einiger Gespräche und Tränen, aber irgendwann Anfang des nächsten Jahres war Stephan so weit, mit mir zusammen, tatsächlich zu einem Treffen der Unterstützer*innen-Gruppe bei Gudrun zu gehen. Und schnell war klar, was seine Aufgaben sein würden: den Garten in Schuss zu bringen und bei größeren Veranstaltungen zu kochen. Seine alten Hobbys, die nun schon viel zu lange brach lagen.

 

Stück für Stück fand er in den nächsten Monaten zurück ins Leben und fühlte sich mit den Menschen in Gudruns Projekt pudelwohl. Als er im darauffolgenden Spätsommer einen Golden Retriever adoptierte, dessen Besitzerin ihn wegen eines Umzuges abgeben musste, war der Zeitpunkt gekommen, mich langsam von Stephan zu verabschieden. Mein Auftrag hier war beendet. Stephan hätte zwar nichts dagegen gehabt, wäre ich geblieben, konnte mich aber gut gehen lassen. Nach viel Arbeit doch noch ein Happy End. 

 

 

Foto. Ein schwarzer Kater mit gelben Augen schaut ernst direkt in die Kamera.
Freies Foto von Pixabay. Merlin, der Erklärkater

Miau, wenn ich mir diesen Text so angucke, werde ich nicht nur als erster bloggender magischer Kater in die Geschichte eingehen, sondern als erster bloggender magischer Kater, der sich ständig verzettelt und vom Thema abkommt, sollte es hier doch um Angst gehen.

 

Aber vielleicht auch nicht, denn Stephan war nicht nur von Trauer überwältigt, sondern hatte unglaubliche Angst davor, wie das Leben ohne seinen geliebten Partner weitergehen sollte, wie seine Zukunft aussehen würde, Angst, sich noch einmal auf ein Lebewesen einzulassen und es wieder zu verlieren. Zusammengefasst: Angst vor Veränderungen. Insofern sind wir doch noch im Thema, gut, miau.

 

Die Angst vor Veränderungen kennt ihr sicher alle in der einen oder anderen Form und dem einen oder anderen Ausmaß. Und doch ist es wie bei vielen Themen, die ich in den Geschichten anspreche: Bei Menschen mit frühkindlichen Traumatisierungen und DIS/pDIS spielt sich alles auf einem ganz anderen Level ab, wie ich schon in den Geschichten 7. Ämterchaos - Unerwartetes Wiedersehen, Handwerker*innen, Tückische Technik u.a. versucht habe zu erklären. Ich will damit eure Erfahrungen nicht abwerten, aber um schwersttraumatisierte Menschen zu verstehen und traumasensibel handeln zu können, muss sich eins genau das bewusst machen. Mal ganz platt ausgedrückt: Potenziert das, was ihr kennt, mit mindestens 100, dann wisst ihr, was Sarah im Hinblick auf die anstehenden Veränderungen im Hilfenetz durchmachte.

 

Und damit sind wir wieder am Anfang, bei meinem Entschluss aufgrund dieser überbordenden Angst, Pia zu uns einzuladen. Gestern war es dann so weit und wir haben abends ein paar unbeschwerte Stunden mit ihr verbracht.

 

Der Grund, warum ich Pia eingangs als „meine Geheimwaffe“ bezeichnete?

Nun, wie alle Elfen versprüht Pia eine unglaubliche Lebensfreude. Pink-lila Power pur, wie es hier ein Innenkind mal ausdrückte, die alle Anwesenden mitreißt. Wenn eins sehr, sehr genau guckt, sind diese kleinen pink-lila Funken, die sie verströmen und die sich in der Umgebung verteilen, sogar sichtbar.

 

Natürlich macht ein solcher Besuch nichts grundsätzlich gut, beseitigt das Problem nicht, aber es verschafft allen, insbesondere Sarah, ein paar Stunden Freude, Hoffnung und Energie und Zeit zum Durchatmen. Ein paar Stunden, in denen Sarahs Angst etwas kleiner wird und sie und die anderen Kraft tanken können. Kraft, um weiter machen, weiter kämpfen zu können. Und – warum auch immer – kann Sarah das zulassen, anders als viele der üblichen Grounding- und Orientierungsübungen, bei denen sie oft das Gefühl hat, dass letztlich wieder alles, was sie empfindet, „nur weggemacht“ werden soll. Wie früher. Daher boykottiert sie sie leider immer noch allzu oft.  Aber gegen Pias unwiderstehlichen Charme kommt auch sie nicht an.

 

Mau. Das hört sich jetzt ein bisschen so an, als würden Pia und ich magische Drogen einsetzen – nein. So etwas würde ich nie tun. Ich denke, ihr alle kennt Menschen, die so herzhaft lachen können, dass eins einfach mitlachen muss und für einen kurzen Moment alles andere vergisst. So ähnlich ist das mit der Elfenmagie, nur viel stärker. Ihre Lebensfreude, ihre magische pink-lila Power, ihre Fröhlichkeit ergreift eins einfach. So war es auch gestern.

 

Aber ich sollte nun schleunigst zum Ende kommen, so gern ich noch weiterschreiben würde, denn ich muss noch das Bad putzen.

Warum? Nun, Pia ist gestern Abend wie meistens direkt nach ihrem Training hier aufgeschlagen. Und brauchte, wie immer, erst mal eine Dusche, weil sie – wie formuliere ich das am besten? Also sie sieht nach dem Training grundsätzlich so aus, als hätte sie in einer Schlammgrube trainiert. (Was nicht der Fall ist.) Und dementsprechend befindet sich dann das Bad in einem Zustand, den Anna – verständlicherweise – nicht so richtig toll findet, um es mal vorsichtig auszudrücken. Gestern sind alle gleich ins Bett, sodass ich erst mal noch um das Putzen drum herumkam und Pias pink-lila Power, die auch mich erfasst hat, zum Schreiben nutzen konnte. Aber nun sollte ich mir schleunigst das Putzzeug schnappen, bevor Anna erst aufwacht und dann sauer wird.

 

Von daher war es das schon wieder für heute, meine zauberhaften Leser*innen. Doch wir lesen uns. Gern könnt ihr mir einen Kommentar hier oder auf meinen Social Media Accounts hinterlassen. Das macht mich immer richtig glücklich. Bis bald.

 

 

Es grüßt euch herzlich euer Merlin.

Kommentare: 3
  • #3

    firefly (Dienstag, 28 November 2023 17:13)

    ich habe mich immer gefragt, wie merlins leben vor Anna und co aussah. Schön, jetzt mehr zu wissen

  • #2

    @energiepirat (Sonntag, 26 November 2023 19:27)

    Eine sehr schöne Geschichte aus Deiner Vergangenheit, lieber Merlin. Wie viele Menschen wohl einen magischen Tiefreund brauchen könnten!? Wie anschaulich beschrieben ist, was den meisten von uns passieren kann. Ein jeder kann in Deinen Berichten Stücke von sich selbst finden, Lebenecht. Sehr gut, Ich lese das immer wieder gen, Und Danke fürs Bescheid sagen

  • #1

    Ginny (Sonntag, 26 November 2023 11:53)

    Starkes Vorwort.

    Tolle Geschichte.

    Danke.